(Projektion von Viktoria Schmids "NYC RGB")

… und am Ende die Silhouette des ikonischen Empire State Building. Ein neuer Tag beginnt, die Zeit nimmt ihren Lauf. Wenn uns ein Lichtstrahl von Graz aus nach New York mitnehmen kann, dann sind wir im Kino. Herzlich willkommen bei der Diagonale!

Häuserschluchten, Lichtspiegelungen, Großstadtgetümmel und rasend schöne Farben. Wir haben uns entschieden, Sie im heurigen Jahr – unserem letzten – gleich und unvermittelt mit einem Film zu begrüßen. Genauer gesagt mit einer experimentellen Miniatur, wie wir im Vorfeld geschrieben haben. Ein lang gehegter Traum. In "NYC RGB" unserer Wegbegleiterin, der Künstlerin Viktoria Schmid, sahen Sie ein "farbverschobenes" Manhattan in Dreifachbelichtung. "Alles so schön bunt hier", hat Nina Hagen im Kultsong "TV-Glotzer" skandiert. Gerade haben wir hier gemeinsam den Beweis angetreten: Das gilt nicht nur fürs Fernsehen, sondern auch fürs Kino.

Das Aufregende am Kino ist ja vielleicht, dass wir hier in dieser portionierten Momentgemeinschaft alle die gleiche Postkarte erhalten und doch möglicherweise einen ganz anderen Film gesehen haben. Denn im Kino liegen individuelles Fühlen und kulturindustrielles Kalkül so nah beieinander wie kaum woanders. Was individuell gefühlt werden soll, wird häufig minutiös geplant, gewiss ist jedoch nichts – wirklich niemals – und stets bleibt eine Lücke. Gefühlte Wahrheiten sind das Geschäft des Kinos und der Kunst, im besten Fall nicht jenes der Politik.

Wie die Postkarte vermag das Kino die Welt da draußen in den eigenen, oft allzu eingezäunten Schrebergarten zu bringen: die Perspektiven und Erlebnisse der anderen, der Lieben, wo immer sie gerade sind – Notizen aus Sehnsuchtsorten und Blicke hinter die Kulissen, Abenteuer, Liebesbekundungen, auch Grauen. Plötzlich meldet sich der österreichische Film aus Paris oder aus der Stadt, die niemals schläft. Seine Sprache ist nicht notgedrungen Deutsch, sein Ausdruck mondän und weltgewandt. Plötzlich ist da eine Vielstimmigkeit, ein Chor der Meinungen, der im Attwenger'schen Sinn auch mal dissonant der eigenen Engstirnigkeit und Kleinkariertheit den Marsch bläst. Kinos sind politische Orte, Orte, an denen wir unseren Alltag abstreifen oder in Relation zu etwas anderem vielleicht noch nicht Gekanntem setzen. Aber – auch das hat die Geschichte gezeigt – Kinos sind auch Orte, an denen sich Normalität erhärten und vorgebliche Gewissheit fortgeschrieben werden kann.

Damit steht es in einem Naheverhältnis zur Klubkultur, die Regisseur Patric Chiha in "Das Tier im Dschungel" – dem zweiten Eröffnungsfilm dieses Abends – in den Fokus nehmen wird. Und auch hier ist die Sehnsucht Kern und Quintessenz: eine Sehnsucht wider alle Widerstände. "Man muss tanzen, das kann uns niemand nehmen", folgert da die Figur der Alice im Film. Eine existenzielle Aussage, die direkt aus den virtuellen Kanälen revoltierender Jugendlicher kommen könnte: angesichts gewaltsam niedergeschlagener Proteste in Ländern mit diktatorischen Tanzverboten nämlich, angesichts der Verzweiflung am klimatischen Notstand der Welt, angesichts geraubter Adoleszenz durch (Angriffs-)Kriege wie jenem Russlands gegen die Ukraine. "Frauen, Leben, Freiheit" – man muss tanzen, das kann uns niemand nehmen.

Sowohl Kino als auch Klub bedeutet häufig Flucht – und manchmal Fluch. Selten war diese Polarität in der österreichischen Kinolandschaft augenscheinlicher als im aktuellen Produktionsjahr. Selten rückte der österreichische Film stärker in den internationalen Fokus. Allerdings längst nicht bloß mit wünschenswerten Erfolgsschlagzeilen, derer es ohne Zweifel auch einige zu verzeichnen gab. Nachdrücklich gab die Sehnsuchtsmaschine vor allem ein längst bekanntes strukturelles Problem preis: (Macht-)Missbrauch, #MeToo, mannigfache fragile Unschuldsvermutungen und Beweisantritte … Zwist.

Die österreichische Filmlandschaft gab sich als gesellschaftlicher Spiegel zu erkennen – als Mitte – und nicht als das gern beschworene bessere Korrektiv. Die Fragen, die daraus resultieren müssen, sind jene nach den Folgen und jene, wie wir darüber reden wollen und können. Auch als Festival wie die Diagonale. So oder so wird es darum gehen, sich auf ein gemeinsames Zeichensystem zu einigen. Erlauben Sie uns, hier etwas auszuholen: Sie werden andere Filme schauen als wir. Weniger österreichische vermutlich. Sie werden andere Bücher lesen und andere Musik hören. Und dennoch, so hoffen wir, werden wir alle – auch wenn wir noch so unterschiedlich sein mögen – gemeinsame Nenner ausmachen: Dinge, die unserem kollektiven Gedächtnis eingeschrieben sind, Erfahrungen, die wir nicht nur individuell, sondern als Gesellschaft gemacht haben, auf denen wir aufbauen, wenn wir die Welt zu begreifen versuchen. Auch "Das Tier im Dschungel" wird in Kürze solch kollektive Einbrüche ins individuelle Erleben auf der Leinwand verhandeln.

Trotzdem merken wir tagtäglich, wie unterschiedliche Generationen genauso aneinander vorbeireden wie Leute mit unterschiedlicher Sozialisierung, kulturellen Erfahrungen oder divergierenden Ansichten. Die Zeichensysteme, die wir nutzen, um uns zu unterhalten und zu kommunizieren, sind notgedrungen Moden und dem Lauf der Zeit unterworfen. Unsere Gegenwart wird zunehmend in Nischen verhandelt, heißt es. Und jede Nische, so scheint es, kommuniziert mit eigenem Vokabular und Jargon. Das birgt politischen Sprengstoff, denn Orientierungslosigkeit macht die Gegenwart komplex. Schon findet man sich also beim Austausch mit den Seinigen wieder – das Immergleiche für die Immergleichen wiederkäuend oder mit überhapps formulierten politischen Forderungen überspielend. Zweifel und Graustufen sind aus der Mode gekommen. Von der eigenen Meinung abzuschweifen, liegt längst nicht mehr im Trend. Geschützt und abgedichtet wollen wir sein. Ob am Stammtisch, im Kulturverein oder im Parlament. Auch der Lions Club ist da nichts anderes als ein Safe Space der Meinungen.

Dazu passt sie nur allzu gut, die omnipräsente Rede von der "Spaltung der Gesellschaft". Möglicherweise steht hinter dem unpräzisen Lamento über den angeblichen Riss vielmehr der starre Glaube an die eigene Überlegenheit. Zum Glück sind es nämlich immer die anderen, die es nicht "checken". Und würden sie es "checken", sie wären nicht die anderen. Und wären sie nicht die anderen, es gäbe keine Spaltung. Schon der Ambros Wolferl wusste: Es ist immer "du verstehst mi ned" und nie "i versteh mi ned".

Was, wenn die Rede von der "Spaltung der Gesellschaft" also eigentlich Ausdruck zunehmender kommunikativer Unmündigkeit ist? Ein Hinweis, dass politischer Diskurs und der wertschätzende Austausch von Argumenten längst nicht mehr als bereichernd empfunden werden. Ein Hinweis, dass uns das Verhandeln von Widersprüchen als Essenz der Demokratie mehr und mehr abhandenkommt. Folgerichtig ist dieser Tage die "Versöhnung" als Reaktion auf die Spaltung en vogue. Nicht nur in Niederösterreich übrigens, wo sie derzeit mit Kalkül zum Ausverkauf jedweder aufklärerischen Werte verkommt. Versöhnt im Geist von Eigeninteresse und Zukunftsverächtlichkeit. Versöhnt, um den immer noch tief sitzenden Rassismus, den Antisemitismus oder die identitären Vorbehalte von rechts und links nicht länger thematisieren zu müssen. Auch diese Koalition und ihre erste Ausformulierung sind Ausdruck des Zeitgeists, und sie sind nicht vom Himmel gefallen, so unangenehm diese Erkenntnis ist. Und sie sind bei Weitem nicht die einzig Nennenswerten. Wir wollten uns den allzu erwartbaren Verweis auf Niederösterreich eigentlich sparen, ihn uns schweigend ins eigene Liederbuch schreiben. Das Ausmaß der Bizarrerie ließ uns schwächeln, verzeihen Sie.

Es ist abzusehen, dass die Zivilgesellschaft in Zukunft wieder lauter die Stimme erheben wird. Dabei wäre fatal, sollte es nicht gelingen, nachvollziehbar zu kommunizieren oder im Flottieren der Zeichen an die Übersetzung zu denken: in der eigenen Branche, im Freundeskreis, in der Lokal- und Bundespolitik. Moralische Empörung ist zu wenig. Ansonsten entsteht ein Unbehagen, gedeihen gegenseitige Ressentiments.

Als Reaktion darauf wird auch zunehmend die Forderung wieder lauter werden, Kunst, Kultur und auch das Kino müssen sich um unser gedeihliches Zusammenleben kümmern. "Ganz im Gegenteil", schallt es erbost aus der anderen Ecke! Kino, Kunst, Kultur dürfen sich nicht kümmern müssen, sie müssen konfrontieren. "Mach doch mal einer den Kulturkack aus!", möchte man darauf lautstark mit Blumfeld erwidern. Nur um sich dann an den zweiten Teil des alten Popzitats zu erinnern: "Ach geht ja nicht, lass bloß an, bin ja selber drin." Wir alle hier sind mehr oder weniger beträchtlicher Teil des "Kulturkacks", Teil des Ringens um Deutungshoheit und Verständlichkeit. Dann erlauben Sie uns also, in den kommenden Tagen viele sehnsüchtige Diagonale-Postkarten wider die Provinzialität an uns alle zu schreiben: als Plädoyer für Grautöne und Farbüberlagerungen – für Realität und Utopie. Sammeln wir Perspektiven, erzählen wir vom Tanz durch Kino, Pop- und Klubkultur. In 155 Filmpostkarten um die Welt: von New York City über Paris nach Graz.

Ein letztes Mal dürfen wir Sie an dieser Stelle einladen: zum Filmeschauen und Gschichtldrucken. Zur Verhandlung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Im Kino, im Klub, im Beisl. Zum Gelingen der Diagonale tragen stets viele bei. Wir möchten uns in diesem – unserem letzten – Jahr bei unseren Kolleg/-innen bedanken – auch bei all jenen, die heuer nicht mehr dabei sind. Es war eine riesige Freude und Ehre, mit euch zu arbeiten und zu feiern! Im Zentrum des Festivals stehen die Filme. Unser herzlicher Dank gilt heuer allen Filmemacher/-innen, deren Filme wir in den letzten Jahren sehen durften. Nur ein Bruchteil davon hat es auch auf die Leinwände der Diagonale geschafft.

Herzlich willkommen bei der Diagonale!