Knappe 16 Jahre alt ist Catherine Goggin, als ihr, zumindest in ihrer Heimatgemeinde, einem irischen Kaff, die letzte Stunde schlägt. Sie ist schwanger, damit ist ihr Schicksal besiegelt. Nach einem fast mittelalterlichen Schauprozess zerrt sie der Priester, der selbst heimlicher Vater von zwei Kindern ist, an den Haaren aus der Kirche. Eine Stunde wird ihr bis zur Abreise gewährt. Ihr Kind bringt die Verstoßene in Dublin zur Welt, wenige Tage später landet das Baby, ein Bub, bei recht wohlhabenden Adoptiveltern, weitaus mehr geduldet als geborgen. Cyril Avery ist fortan sein Name.


Mit dieser Episode beginnt John Boyne sein imposantes sprachliches Sitten- und Gesellschaftsgemälde; mehr als 700 Seiten umfasst das Werk, das zweifellos zu den besten Irland-Romanen jüngerer Zeit zählt. Sieben Jahrzehnte, beginnend im Jahr 1945, umfasst die Geschichte von Cyril, der in seiner Pubertät seine homosexuellen Neigungen entdeckt und in Zeiten heuchlerischer Scheinmoral gezwungen ist, ein oft tragikomisches Doppelleben zu führen. Dabei tappt er von einer Lügenfalle in die nächste. Die Qualität dieses Roman-Monuments besteht darin, dass Boyne in einer bravourösen Parallelaktion nicht seinen Protagonisten ausliefert, sondern mit einem enormen Gespür für Zeitkolorit sein Heimatland Irland in all seiner moralischen und politischen Zerrissenheit porträtiert, präsentiert – und nicht selten bloßstellt.


Boyne ist ein Großmeister der entlarvenden, doppelbödigen und zynischen Dialoge, nicht wenige Kapitel wären als Kammerspiele gewiss auch bühnentauglich. Exzellenter irischer Humor trifft auf Zynismen und schonungslose Wahrheiten. Zugleich ist das Buch durch all seine sozialen Querbezüge ein exzellenter Reiseführer durch die weite und oft seltsame irische Seelenlandschaft. Das Lachen und das Entsetzen gehen in „Cyril Avery“ eine enge Beziehung ein, frei nach dem Motto: Niemand hier ist normal. Man lese und staune.