"Was er las, verstand er meistens auch; und wenn er aus manchem den Sinn nicht herausfand, welchen der Autor hineingelegt hatte, so fand er einen anderen Sinn heraus oder legte ihn hinein, der ihm ganz allein gehörte, und mit welchem der Autor sehr oft zufrieden sein konnte.“ Ein wunderbarer Satz über das Wesen, das Wirken und das wahrhaft Wichtige, das bloßes Erzählen und bemühtes Niederschreiben in große Literatur verwandelt. Geschrieben hat den Satz, lange ist es her, Wilhelm Raabe, zugetan war er damals einem lesefreudigen Schuster von ebenso einfachem wie ehrlichem Gemüt, der sich auf vielerlei Geschichten seinen eigenen Reim machte. Aber die Aussage hat nichts an Gültigkeit eingebüßt.

Nun ist Joachim Meyerhoff kein Autor, der mit vertrackten Verklausulierungen auch nur irgendetwas im Sinn hat. Seine im deutschsprachigen Raum derzeit recht rare Gabe liegt in der stilistischen Bravour, mit der er kleinste, scheinbar unbedeutende Ereignisse sprachlich veredelt. Im vierten Teil seiner auf sechs Bände angelegten Suche und Wiederbelebung verlorener Zeit wartet er aber mit einem speziellen Gefühls-Furioso auf. „Die Zweisamkeit der Einzelgänger“ führt den Jung-Schauspieler, der sich bei einem Engagement in Bielefeld abquält, mitten hinein in die erste große Liebesbeziehung seines Lebens.

Nach drei Jahren bei seinen Großeltern in München, in denen er sich in einen fast schon zölibatären Schüchterling verwandelt, gerät sein Gefühlshaushalt aus allen Fugen. Aber es wäre nicht der Selbstironiker Meyerhoff, der plötzlich auf Wolke sieben schwebt, würde sich die Wolke nicht mit Blitz und Donner entladen und emotionales Chaos auslösen. Denn zur ersten Liebe gesellt sich, da ist auch Meyerhoff situationselastisch, bald eine zweite und eine dritte.

Aber mit all den daraus resultierenden Verheerungen löst Meyerhoff, und damit erklärt sich das eingangs erwähnte Zitat auf andere Weise, beim Leser eigene Erinnerungen und Geschichten aus. Ein geniales komödiantisches Glanzstück gelang Meyerhoff, mit seiner Abhandlung über die vier Grundformen des Küssens, an anderer Stelle holt er, fast in Bernhard-Manier, zur Theater-Gesamtbeschimpfung aus und macht aus der Bühne eine Deklamationshölle.

Nie aber stellt Meyerhoff Mitmenschen bloß, das Ziel des Spottes ist stets er selbst. Er ist all seinen Gedankenkindern ein fürsorglicher Vater. Die Vokabeln laufen ihm freudig zu, wissend, dass sie nicht allesamt wieder nur in einem Metaphern-Topf geworfen und lauwarm serviert werden. Die scheinbare Leichtigkeit, mit der Meyerhoff erzählt, ist trügerisch. Oft wirkt sie wie ein ohnehin löchriger Schutzschild, um Tragödien halbwegs fernhalten zu können. Ein weiteres Glanzstück, das man einfach lieben muss.

Joachim Meyerhoff. Die Zweisamkeit der Einzelgänger. Kiepenheuer & Witsch, 352 Seiten, 24,70 Euro.
Joachim Meyerhoff. Die Zweisamkeit der Einzelgänger. Kiepenheuer & Witsch, 352 Seiten, 24,70 Euro. © KK