Ich war ein Wunderkind, jetzt bin ich ein Niemand. . .“ Mit diesem wunderbaren ersten Satz öffnet sich das Tor zum neuen Roman von Gerhard Roth; wieder ist es der Grundriss eines Rätsels, wieder eine mächtig mäandernde Wortlandschaft, diesfalls angesiedelt im Stadt gewordenen Untergang, in Venedig also; wieder also ist der Held keiner, sondern, naheliegend, ein buchstäblicher Untergeher; wieder also ent- und verführt der große Rätselschmied Gerhard Roth mit nahezu perfider Gelassenheit in eine wankende Welt, in der der Schein trügt und das Sein sich tarnt – nicht nur hinter venezianischen Masken.


Michael Aldrian heißt das einstige Wunderkind; musikalisch hochgebildet aber, ähnlich wie sein Bruder Jakob, nur begabter Kopist, nie begnadeter Kreativkopf. In der Wiener Staatsoper hatte man ihn wegen seiner Fähigkeiten als Maestro Suggeritore, einer Kombination aus Souffleur und Kapellmeister, „Mephisto“ genannt. Denn die Stärke von Aldrian war es, aus der Unterwelt die Schwächen in der Oberwelt zu korrigieren. War. Nach einem Hörsturz ist die Karriere beendet, und die Irrfahrt des Michael Aldrian beginnt. Sie führt ihn nach Venedig, zu Bruder und Schwägerin. Doch beide sind spurlos verschwunden.

Eintauchen ins Roth'sche Rätsel

Soweit der grobe Grundriss der Handlung, jener des Roth’schen Rätsels ist freilich um ein Vielfaches verworrener. Verworren und lustvoll verästelt wie die Gassen der Lagunenstadt, durch die Michael Aldrian torkelt. Trunken vom Wein, trotzig einem Leben gegenüber, in dem die Grenzen zwischen Ober- und Unterwelt längst verschwommen sind.
Der Weltenchirurg Gerhard Roth denkt, lebt und schreibt in Zyklen. Zuerst hat er die Archive des Schweigens geöffnet, dann tauchte er großflächig in den Orkus, das Reich der Toten, ein; und jetzt schickt er seinen Aldrian hinein in einen neuen Zyklus und in eine Welt, die längst keine Antworten mehr zu bieten hat, das Fragen allerdings, es endet dennoch nie.


Was wie ein Paradoxon klingt, ist keines: Durch die tiefe Ruhe seines Tons verbreitet Gerhard Roth eine im wahrsten Sinne des Wortes unheimliche Unruhe, die sich im Laufe des Buches zu einem gespenstischen Furor steigert. Natürlich ist es wieder kein Kriminalroman, den Roth geschrieben hat, sondern ein „Verbrechensroman“. Denn nie hat diesen Autor das Was interessiert, immer nur das Warum. Und wie stets ist Gerhard Roth auf der Suche nach dem verlorenen Paradies. Wenngleich: „Das Paradies ist eine Fälschung“, sagte er unlängst in einem Interview mit dieser Zeitung. Auch das kein Paradoxon