Ein gigantisches Textmassiv, ein kolossales Denkmal in vielfacher Hinsicht, derzeit einzigartig nicht nur in der deutschsprachigen Geistes- und Schreibwelt. Mit seinem mehr als 900 Seiten umfassenden Werk „Ich zähle jetzt bis 3 und dann ist Frieden“ setzt Egon Christian Leitner seine wortmächtige Trilogie „Des Menschen Herz“ fort. Diesen 2012 erschienenen, enorm vielschichtigen und sozialkritischen Auseinandersetzungen mit Irrungen und Wirrungen gab er den Zweitnamen „Sozialstaatsroman“.

Nach der Lektüre, auch der damals beigelegten Tagebücher, war klar, dass dieses Opus Magnum, gebündelt auf 1200 Seiten, nach einer Fortsetzung und Weiterführung verlangte. Noch viel zu viel war faul, nicht nur im Staate Österreich.

Der meist sehr zurückgezogen lebende Freigeist, Jahrgang 1961, daheim in allen relevanten Denkbereichen, ist ein Gerechtigkeitskämpfer im besten Sinn des Wortes, rebellisch, aber frei von aggressiven Untertönen, ein Individualanarchist und, nach eigenen Worten, „Positivist“, geprägt durch die Überzeugung, dass Ungleichheit behebbar und ein Größtmaß an Selbstbestimmung erreichbar ist. Aber: Wo ein primär von Politikern bekundeter Weg ist, muss keineswegs auch die Entschlossenheit oder auch nur ein Anflug von Bereitschaft folgen,
diesen auch zu beschreiten.

Egon Christian Leitner. Ich zähle jetzt bis 3. Wieser. 926 Seiten, 35 Euro.
Egon Christian Leitner. Ich zähle jetzt bis 3. Wieser. 926 Seiten, 35 Euro. © KK

Worthülsen nur, Egon Christian Leitner lässt sie allesamt platzen. Er weiß nur allzu genau und aus leidvoller Erfahrung, worüber er schreibt. Philosophie und klassische Philologie studierte er, tätig war er bald allerdings als Kranken- und Altenpfleger und Flüchtlingshelfer. Und wohl am meisten geprägt hat ihn der französische Soziologe Pierre Bourdieu, der nicht nur vor Augen führte, in welcher Wegwerfgesellschaft wir, im doppelten Wortsinn, leben, sondern auch eine Steigerungsform dafür fand – den Wegwerfmenschen. Ein Gebrauchsartikel, nicht mehr, aber oft noch viel weniger.

Mit den Arbeiten für seine Trilogie über den Sozialstaat begann er bereits 1979, zehn Jahre lang investierte er in den Feinschliff. Dem Dreiteiler folgt nun ein vierter Teil, der sich allein schon formal über viele Grenzen hinwegsetzt. Vorwiegend besteht „Ich zähle jetzt bis 3. . .“ aus Tagebucheintragungen. Querbezüge stellen sich, stilistisch, mitunter auch thematisch, rasch ein. Sie führen von Meister Eckhart über die Sudelbücher von Lichtenberg bis zu den Cahiers von Paul Valery, zuweilen auch zu Colum McCanns „Apeirogon“ um nur einige Orientierungs- und Annäherungspunkte zu nennen. Von Pierre Bourdieu ganz zu schweigen.

Dies soll vor Augen führen, welche Denk- und Textflächen Egon Christian Leitner vor seiner Leserschaft ausbreitet. Interventionen nennt er seine Eintragungen oft, stets mit der Überzeile „Tag, Monat, Jahr“ versehen, aber ohne präzisere Angaben. Diese sollen ein Rätsel bleiben, erklärte er in einem persönlichen Schreiben.

So reihen sich glossenhafte, zuweilen sehr pointierte Beiträge an berührende und tragische Erlebnisberichte. Egon Christian Leitner zitiert große Denker quer durch die Jahrhunderte, streut Aphorismen, meisterhafte Miniaturen und Momentaufnahmen ein, wiederum gefolgt von schicksalhaften Konfrontationen aus der Unterschicht.

All das summiert sich, beginnend einige Jahrhunderte vor Christus, zu einem eindringlichen, umfassenden Archiv humaner Erkenntnisse und Assoziationen. Als „Journal für aktuelle Ewigkeiten“, betitelt der Grazer Autor einen der Abschnitte. Das mag anmaßend klingen, ein Verdacht, der sich bei der Lektüre dieses permanent entlarvenden und weisen Werks nie einstellt; es bietet alle Voraussetzungen, um dank seiner Wortmacht und seiner Gewissensfülle zu einem Lebensbegleiter zu werden.