Italien lässt mitten in der Pandemie heute seinen Nationaldichter Dante Alighieri hochleben. Wie kommt es, dass ein Mensch, der vor 700 Jahren starb, noch immer so lebendig ist?
PAOLO RUMIZ: Dante feiert in seiner Dichtung das Leben – die Liebe, die fleischlichen Begierden, die Trauer und den Schmerz. Die Zeit, von der er spricht, ist das Heute, sein Weltbild wirkt atemberaubend modern. Wir leben in einer Gegenwart voller Müllberge, in der die menschliche Präsenz für die Natur unerträglich geworden ist. „L’aiuola che ci fa tanto feroci“ nennt Dante in der „Commedia“ unseren Planeten: „Das Fleckchen Erde, das uns so wild macht.“ Wie recht er doch hat! Wir Menschen sind wie die Ameisen: Wir führen auf engstem Raum Kriege, versklaven und fressen uns gegenseitig auf.

Wann sind Sie Dante zum ersten Mal begegnet?
Ich war ein Kind und bekam eine große Ausgabe der „Göttlichen Komödie“ mit den Illustrationen von Gustave Doré in die Hände. Das waren ungemein sinnliche Bilder. Ich erinnere mich an jedes einzelne davon. Ich glaube, ich habe mich sogar ein bisschen vor Dante gefürchtet. Aus der Schulzeit sind mir nur ein paar Terzinen im Gedächtnis geblieben. In diesem Alter interessiert einen vor allem die Hölle, denn sie ist menschlicher als das Paradies, und es ist dort einfach mehr los. Das erste Mal bewusst mit Dante beschäftigt habe ich mich, als ich für meine Diplomarbeit in Cambridge war. Ich hatte Heimweh nach Triest und rezitierte beim Spaziergehen entlang der Eisenbahnstrecke in der Einschicht Verse von Dante, die jahrelang in meiner Erinnerung verschüttet gewesen waren. Es war ein besonderer Moment. Mir wurde klar, dass meine Heimat nicht so sehr ein bestimmter geografischer Ort ist, sondern die Sprache. Diese Erfahrung haben viele Emigranten gemacht, auch Dante, der aus Florenz verbannt wurde. So richtig in mein Leben getreten ist er dann aber erst im Apennin.


In den Bergen. Wie das?
Das ist lange her. Ich war um die 30 Jahre alt und zu Fuß im Grenzgebiet zwischen Umbrien und Latium unterwegs. Eines Nachts habe ich mein Zelt in der Nähe von einem Hirten und seinen zwei Hunden aufgeschlagen. Ich bin zwei Tage bei ihm geblieben. Seine Herde war riesig. Der Mann konnte weder lesen noch schreiben, aber er hatte ein phänomenales Gedächtnis, aus dem er ganze Passagen aus der „Commedia“ abrufen konnte. Das tat er im Gehen, vor allem wenn er allein war. Er hatte kein Radio und kein Auto. Er hatte nichts außer seinen Füße und seinem Gedächtnis. Und er hatte das Bedürfnis, die Leere seiner Tage mit etwas zu füllen, das ihm guttat. Dante leistete ihm Gesellschaft in seiner Einsamkeit, so wie er schon für dessen Vorfahren Gesellschaft gewesen war. Schlagartig wurde mir bewusst, dass der Mann Erbe einer uralten mündlichen Tradition von Generationen von Hirten war, die seit Urgedenken mit ihren Herden den Apennin überquert und auf ihrer einsamen Wanderung zum Zeitvertreib auswendig die Verse von Dante hergesagt hatten.

Warum gerade Dante?
Weil er ein Kind dieser apenninischen Welt ist und ihre Sprache spricht. Dante ist ein gebildeter Mann. Aber er stammt aus Florenz, das Umschlagplatz für Schafwolle war. Und er bezieht seine ganze spontane poetische Kraft aus dem Volk und dessen angeborener sprachlicher Musikalität. Ihr Nordländer könnt das nur schwer verstehen. Eure Welt ist weniger lichtdurchflutet und härter, das Deutsche viel konzeptueller. Aber wenn meine Großmutter mir Märchen erzählt hat, dann hat sie, ohne dass ihr das bewusst gewesen wäre, in einer stark rhythmisierten Sprache gesprochen. Und ich kleiner Bub habe ihr, ganz im Bann der beschwörenden Kraft der Verse, mit weit aufgerissenen Augen gelauscht. Dante hat auf uns Italiener eine ähnlich magische Wirkung. Sein Periodenbau atmet Mündlichkeit. Er dichtet im Endecasillabo, dem Elfsilbler, der bis heute das populärste Versmaß in Italien ist. Beeinflusst von Dante habe ich vor 20 Jahren selbst begonnen, Elfsilbler zu schreiben. Es war der Aufbruch zu einer fantastischen Reise.

Inwiefern fantastisch?
Die Literatur hat heute viel von der archaischen mündlichen Wucht verloren, die sie einst besaß. Das hat damit zu tun, dass wir sie meist nur stumm lesen, obwohl die Kraft der Worte sich einem erst so richtig erschließt, wenn man sie mit lauter Stimme vorträgt. Es ist noch gar nicht lange her, da forderten in manchen Dörfern in Mittelitalien die Männer einander zu Ostern zum Dichterstreit heraus. Die dort vorgetragenen Verse entstanden aus den Geschichten, die sich die Leute im Winter am Herdfeuer erzählten. Sie waren nie das Werk Einzelner. Das vor Augen, bekommt man eine Ahnung, wie ein Werk wie die „Odyssee“ entstanden ist.

Dante steigt also tief hinab in die Ursprünge Italiens. Ist es das, was ihn unsterblich macht?
Vor einem Jahr, während der ersten Welle der Pandemie, habe ich 35 Tage zu Hause in strenger Klausur verbracht. Eines Nachts konnte ich nicht schlafen, und mir fiel ein, dass es eine Luke gibt, durch die man aufs Dach schlüpfen kann, das ich davor noch nie betreten hatte. Den Kopf voller Albträume verließ ich in einem Anfall von Klaustrophobie die Wohnung und torkelte über die Stiege nach oben. Draußen dämmerte schon der Morgen, und die Möwen standen stumm und unbeweglich im Gegenwind hoch über dem Meer und warteten auf den ersten Sonnenstrahl. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Vielleicht habe ich Dante nie wirklich begriffen. Mein Aufstieg ein paar Augenblicke davor im engen Stiegenhaus auf das Hausdach erschien mir plötzlich wie der Übergang vom Inferno in das Paradies, und mir wurde mit einem Mal bewusst, wie sehr die Reise von Dante in das Jenseits doch eine Synthese des gewundenen Weges ist, den der einzelne Mensch zu einem tieferen Verständnis des Lebens zurücklegt.