Man würde es kaum vermuten, aber die älteste Satirezeitschrift der Welt erscheint in der Schweiz. Der „Nebelspalter“ wurde 1875 nach dem Vorbild des englischen "Punch" (1841–2002) ins Leben gerufen. Das „Illustrierte humoristisch-politische Wochenblatt“, das der Journalist Jean Nötzli und der Karikaturist Johann Friedrich Boscovits in Zürich aufgebaut hatten, wuchs wie der Münchner „Simplicissismus“ (1896-1944) oder die Berliner „Weltbühne“ (1905-1993) zu einem Forum für kritische Geister. So renommierte Autoren wie Kurt Tucholsky, Erich Kästner oder Mascha Kaléko schärften die  „Speerspitze der geistigen Landesverteidigung“ gegen den Nationalsozialismus, als die sich der „Nebelspalter“ selbst verstand.

Im Kalten Krieg nahm man kritische Haltung gegenüber den Kommunismus ein. Nach einer Krise Anfang der 1990er, in der man zunächst im Biederkeit absackte und dann die radikale Kehrtwende in Richtung des seit 1979 erscheinenden deutschen Satiremagazins „Titanic“ nicht schaffte, stellte der „Nebi“, wie er in der Schweiz liebevoll genannt wird, 1996 auf einen Monatsrhythmus um und steuert seit einer Übernahme 1998 mit einer Auflage von rund 20.000 Stück in ruhigeren Gewässern.

Aufmerksame Leser entdeckten im „Nebelspalter“ vom 6. März 1920 etwas Verblüffendes. In der Ausgabe 10 des 46. Jahrgangs erschien ein damals typisches satirisches Zeitgedicht, das auf die grassierende Spanische Grippe gemünzt war, die zwischen 1918 und 1920 rund 100 Millionen Menschen dahingerafft hatte.  Die 13 vierzeiligen Strophen im Kreuzreim würden aber – abgesehen vom Stil - genauso gut 100 Jahre später zu Corona passen. "Die Grippe und die Menschen“ spricht vor allem das Verhalten der Bevölkerung auf die von der Politik und Verwaltung verordneten Maßnahmen an, als ob das Gedicht von heute stammt. Lesen Sie selbst:

Seite des "Nebelspalter" mit dem Gedicht "Die Grippe und die Menschen"
Seite des "Nebelspalter" mit dem Gedicht "Die Grippe und die Menschen" © Engeli & Partner Verlag

"Die Grippe und die Menschen“

Als Würger zieht im Land herum
Mit Trommel und mit Hippe,
Mit schauerlichem Bum, bum, bumm
Tief schwarz verhüllt die Grippe.

Sie kehrt in jedem Hause ein
und schneidet volle Garben –
Viel rosenrote Jungfräulein
Und kecke Burschen starben.

Es schrie das Volk in seiner Not
Laut auf zu den Behörden:
"Was wartet Ihr? Schützt uns vorm Tod –
Was soll aus uns noch werden?

Ihr habt die Macht und auch die Pflicht –
Nun zeiget eure Grütze –
Wir raten euch: Jetzt drückt euch nicht.
Zu was seid ihr sonst nütze!

's ist ein Skandal, wie man es treibt,
Wo bleiben die Verbote –
Man singt und tanzt, juheit und kneipt,
Gibt's nicht genug schon Tote?"

Die Landesväter rieten her
Und hin in ihrem Hirne,
Wie dieser Not zu wehren wär',
Mir sorgenvoller Stirne!

Und sieh', die Mühe ward belohnt,
Ihre Denken ward gesegnet:
Bald hat es, schwer und ungewohnt,
Verbote nur so geregnet.

Die Grippe duckt sich tief und scheu
Und wollte sacht verschwinden –
Da johlte schon das Volk aufs Neu'
aus hunderttausend Münden:

„Sind wir denn bloß zum Steuern da,
Was nehmt ihr jede Freude?
Und just zu Fastnachtszeiten – ha!"
So gröhlt und tobt die Meute.

"Die Kirche mögt verbieten ihr,
Das Singen und das Beten –
Betreffs des andern lassen wir
Jedoch nicht nah uns treten.

Das war es nicht, was wir gewollt,
Gebt frei das Tanzen, Saufen,
Sonst kommt das Volk – hört, wie es grollt,
Stadtwärts in hellen Haufen!"

Die Grippe, die am letzten Loch
Schon pfiff, sie blinzelt leise
Und spricht: "Na, endlich – also doch!"
Und lacht auf häm'sche Weise.

Ja, ja – sie bleibt doch immer gleich
Die alte Menschensippe!
Sie reckt empor sich hoch und bleich
Und schärft aufs Neu' die Hippe.

(Auf der Netzseite der Eidgenössische Technische Hochschule Zürich sind Ausgaben des „Nebelspalter“ wie vom März 1920 vollständig einzusehen: www.e-periodica.ch/digbib/view?pid=neb-001:1920:46#1862)

www.nebelspalter.ch

Das Titelblatt vom 6. März 1920
Das Titelblatt vom 6. März 1920 © Engeli & Partner Verlag