Eines meiner Lieblingscomputerspiele ist Grand Theft Auto 5. Man schießt darin auf Menschen und klaut ihre Autos. Aber das Schöne daran: Man muss das nicht tun. Bei vielen anderen klassischen Ego-Shooter-Spielen stirbt man ziemlich schnell oder langweilt sich, wenn man sich dem vom Spiel vorgegebenen Storymodus widersetzt. In GTA5 aber gibt es „von Natur aus” überhaupt keine Gegner, die einen angreifen. Man muss jedes Mal selbst mit der Gewalt beginnen. Nur, wenn man ein Auto gestohlen oder wahllos auf Passanten geschossen hat, kommt die Polizei und wird zu einem aktiven Gegner, der das Feuer eröffnet und einen tatsächlich umbringen kann.

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Irreal schöne Landschaften

Aus diesem Grund gehen so viele Menschen am liebsten bloß spazieren in der gigantischen Welt des Spiels. Sie entdecken interessante Zwischenreiche, fehlerhaft programmierte Ecken, irreal schöne Landschaften mit liebevoll gestalteten Einzelheiten. Das letzte echte Flaneurtum sozusagen. In irgendeiner Randzone der fiktiven Spiel-Stadt Los Santos (die Los Angeles nachempfunden ist) kann man sich ohne jegliche Scham noch so fühlen wie Peter Handke in seiner Niemandsbucht oder Fernando Pessoa in seinem Lissabon: aufgabenlos sinnend und schauend, ein Geheimagent der weltlichen Mysterien, mit einer stark vorhandenen Amokneigung.

Die fiktive Welt des Spiels

Aber wenn man, so wie das Spiel es für einen vorgesehen hat, doch einmal ein Auto stiehlt und damit durch die Gegend fährt, schaltet sich meist automatisch das Radio ein. Gespielt werden darin bekannte Pop-Hits. Und hier das Bemerkenswerte: In vielen dieser Songs geht es um Kalifornien oder Los Angeles, also Orte, die innerhalb der fiktiven Welt des Spiels gar nicht existieren. Da heißt die Stadt, wie schon erwähnt, Los Santos. Sie ähnelt dem realen L.A. durchaus in einigen Elementen, aber vieles ist verändert, überzeichnet, verschoben. Diese von mir erträumte Fahrt im gestohlenen GTA5-Fahrzeug, mit einem Radio voller Lieder, die von einer ganz anderen Welt wissen als man selbst, ist das Thema meines Vortrags – und vielleicht auch das der kommenden Tage.

Der rätselhafte Philip K. Dick
Der rätselhafte Philip K. Dick © KK

Die Zeit aus den Fugen

Im Jahr 1959 veröffentlichte der Autor Philip K. Dick den Roman, der dieser Veranstaltungsreihe den Titel verleiht: „Time out of Joint“, „Zeit aus den Fugen“. Der Titel selbst ist natürlich ein Zitat aus Hamlet –“The time is out of joint; O cursed spite / that ever I was born to set it right“. Mit diesem Roman hat es eine eigenartige Bewandtnis. Denn viele Jahre nach seiner Veröffentlichung erlebte Philip K. Dick ziemlich genau den Inhalt des Romans als eine Serie von realen Erfahrungen, die sein Leben und sein Weltbild vollkommen veränderten Er hatte sich, kurz gesagt, in seine eigene Figur verwandelt. Fassen wir kurz den Inhalt des Romans zusammen:

Ein Mann namens Ragle Gumm

Die Geschichte handelt von einem Mann namens Ragle Gumm. Er ist ein kauziger, aber kluger Mensch, der seinen Lebensunterhalt durch das Lösen eines kuriosen Zeitungsrätsels namens „Wo erscheint das grüne Männchen als nächstes?“ bestreitet. Er ist der uneinholbare Champion dieses landesweit beliebten Kästchenspiels. Jedes Mal gewinnt er, weil er, seiner Intuition und seinem guten Gefühl beim Deuten der manchmal von der Zeitung hinzugefügten nonsensartigen Hinweissätze folgend, jedes Mal das richtige Kästchen errät. Von seinen Mitmenschen wird er für diese bizarre Meisterschaft eher wenig respektiert. Aber er bleibt bei ihr.
Allmählich beginnt seine Alltagswelt zu bröckeln, Dinge finden sich plötzlich nicht mehr da wo sie waren, er entdeckt ein altes Telefonbuch mit ihm unbekannten Vorwahlen. Er wählt die Nummer und niemand geht ran. Dann fällt ihm sogar eine Ausgabe des Time Magazine in die Hände – mit ihm selbst auf dem Cover!

Bedrohte Erde?
Bedrohte Erde? © KK

Die Erde im Krieg mit dem Mond

Schließlich begreift er, dass er gar nicht in den Fünfzigern lebt, sondern um die Jahrtausendwende. Die Erde ist im Krieg mit dem Mond. Seine Aufgabe war es, als er das noch wusste, die Einschläge der gegnerischen Raketen zu berechnen. Dann begann er zu dissoziieren, imaginierte sich in die heile Welt seiner Kindheit – und drohte seinen lebensrettenden Dienst aufzugeben. Man baute also, um seine Vorhersagetätigkeit zu erhalten, eine künstliche Welt der Fünfziger auf und ließ ihn darin seine mit Harmlosigkeit getarnte Aufgabe weiter erfüllen.

Matrix und die Truman Show

Uns, die wir heute leben, erinnert so ein Plot-Twist natürlich sofort an Filme wie „Matrix“ oder „Truman Show“. („Truman Show“ zitiert übrigens einige der Fluchtversuchsszenen des Romans so überdeutlich, dass man beinahe von einer Art Plagiat sprechen könnte.) Hier also die emotional erstaunlich spannungsgeladene Konstellation im Roman: Das Überleben der Menschen hängt von Gumms Begabung ab, aber er hatte sich entschieden, in einer Art von Nervenzusammenbruch, dass er keine Leben mehr retten will, aber man fand einen Weg, ihn trotzdem noch Leben retten zu lassen.

Eine Szene aus dem Film "Matrix"
Eine Szene aus dem Film "Matrix" © KK

Die Lampenschnur

In Emmanuel Carrères romanhafter Biografie von Philip K. Dick, „Je suis vivant et vous êtes morts“ (1993), bildet die Urszene von „Time out of Joint“ ein Augenblick, in dem Dick in seinem Badezimmer Licht zu machen versucht und nach einer Lampenschnur greift, aber nach einer Weile feststellt (bzw. sich erinnert), dass es ja gar keine Lampenschnur gibt. Der Lichtschalter ist an der Wand angebracht, war dort immer schon.

Richtig oder falsch?

Ein Irrtum, zweifellos. Passiert jedem. Aber Dick stellte sich die Frage: Was genau war diese deutliche Erinnerung an die Lampenschnur? Wie verirrt sich ein „bloßer Irrtum“ bis in die gedankenlose Motorik hinein, bis in einen „tausendmal getanen“ und dadurch längst automatisch gewordenen Griff nach links in die Luft neben dem Waschbecken? Was, wenn dieser Griff „richtig“ war und der Lichtschalter an der Wand „falsch“? Auf dieser letzten Möglichkeit basiert ein gewaltiger Teil von Dicks erzählerischem Werk. Die Szene kehrt auch ziemlich unverwandelt in „Time Out of Joint“ wieder. Ragle Gumm sagt dort: „Ich habe nicht wahllos umhergetastet. Wie ich es in einem fremden Badezimmer tun würde. Ich habe nach einer Schnur gesucht, an der ich schon oft gezogen habe. Oft genug, um einen unbewussten Reflex in meinem vegetativen Nervensystem zu programmieren.“

Die verstörende Rede

Viele Jahre später, 1977, fuhr Philip K. Dick nach Frankreich, um in Metz an einer großen Sci-Fi-Konferenz teilzunehmen. Dies war eine Besonderheit, da Dick überhaupt nicht gern reiste. Am 24. September hielt er eine Rede, die berühmt wurde aufgrund der verstörenden Unentscheidbarkeit, die jeder fühlt, der sie  auliest:

Vergangenes und gegenwärtiges Leben

Ich bin sicher, dass Sie, wenn Sie mir zuhören, mir keinen Glauben schenken. Sie werden nicht einmal glauben, dass ich selbst es glaube. Aber dennoch ist es wahr. (…) Oft behaupten Menschen, dass sie sich an ein vergangenes Leben erinnern; ich behaupte, mich an ein anderes, vollkommen anderes gegenwärtiges Leben zu erinnern. Mir fällt niemand ein, der eine ähnliche Behauptung aufgestellt hat, aber ich vermute dennoch, dass ich nicht der einzige bin, der solche Erfahrungen gemacht hat. Aber vielleicht bin ich der einzige, der bereit ist, darüber zu sprechen.“

Rätselhafte Ereignisse

Man stelle sich die Reaktion des Publikums vor. Es sollte um Sci-Fi-Literatur gehen, und dann berichtete einer der Stargäste über etwas, das wie das esoterische Konzept der „Erinnerung an frühere Leben“ klang? Den ganzen Sommer 1977 hatte Dick an seiner Rede gefeilt. Sie war für ihn einer der wichtigsten Texte, die er je verfasst hatte. Kurz davor war sein Gesicht auf dem Cover von Time Magazine erschienen, wie zuvor das seiner Figur Ragle Gumm. Er beschreibt in der Rede einige rätselhafte Ereignisse, die er 1974 erlebt hatte und die ihn seither fast Tag und Nacht beschäftigten. Alles hatte begonnen mit der Paketbotin einer Medikamentenlieferung. Sie trug ein urchristliches Amulett um den Hals, dessen Anblick sich tief in Dicks Bewusstsein bohrte.

Programmierte Realität

Schließlich hatte er die Vision einer tödlichen Krankheit, die seinem kleinen Sohn zustoßen würde – was sich sogar als wahr herausstellte und, da Dick die Ärzte dazu brachte, den auf den ersten Blick beschwerdefreien Jungen genauer zu untersuchen, zur Rettung des Sohnes führte. Schließlich formulierte er seine Diagnose: „Wir leben in einer computerprogrammierten Realität, und wir bemerken das nur dann, wenn eine Variable verändert wird.“ Und: „Wir müssen nun jemanden finden, der es auf irgendeine Weise –wie genau, spielt keine große Rolle – fertiggebracht hat, Erinnerungen an eine andere Gegenwart zu bewahren“.

Leben wir in einer programmierten Realität
Leben wir in einer programmierten Realität © KK

Die schlechtere Welt

Meiner Ansicht nach müsste es sich bei diesen ausschließlich um Erinnerungen an eine schlechtere Welt als diese hier handeln. Denn es wäre vernunftwidrig, anzunehmen, dass Gott der Programmierer und Reprogrammierer eine bessere durch eine schlechtere Welt ersetzen würde, „schlechter“ im Sinne von Freiheit oder Schönheit oder Liebe oder Ordnung oder Gesundheit – oder sonst irgendeinem Maß, das uns verständlich ist. Also fragen wir uns: Kann sich irgendeiner von uns auf irgendeine vage Weise an eine schlechtere Erde im Jahr 1977 erinnern als es die gegenwärtig sichtbare ist? Ich jedenfalls kann es.“
Witzig wäre es, wenn ich Ihnen nun auch, vollkommen ernst und mit einer gewissen Erschütterung, irgendeine Verschwörungstheorie als Wahrheit berichten würde.

Teil des Internet

Aber nein: Es wäre eigentlich gar nichts Ungewöhnliches, es wäre auch nicht besonders witzig. Aber warum nicht? Ich glaube, der Grund ist folgender: Würde jemand wie Philip K. Dick heute so eine Rede halten, er wäre kein exzentrischer Künstler, er wäre lediglich ein Teil einer großen Bewegung, er wäre Teil des Internet, kurz: Er wäre einfach nur im Internet. Elon Musk erklärt uns bei jeder Gelegenheit, dass wir „in der Simulation“ leben. „Die Simulation“ ist überhaupt, scheint mir, die vorherrschende Art, wie einflussreiche Menschen heute über die Wirklichkeit urteilen: Sie sei gesteuert von Algorithmen, mal hochsensibel, mal indifferent gegenüber der Veränderung kleinster Variablen.

Die Unwirklichkeitsvermutung

Und jede planetare Katastrophenerzählung – wie die über das Klima, die Pandemie, den Kapitalismus – verursacht bekanntlich ein starkes Gefühl von Vorprogrammiertheit und eine damit einhergehende Erlaubnis, alles als unwirklich zu empfinden. Man liest in der Früh die Nachrichten und – ja, jeder kennt das Gefühl. Philip K. Dick ist so etwas wie der Anwalt der Allgemeinen Unwirklichkeitsvermutung, die heute zum Gefühlsfundament einer ungeheuren Masse von Menschen geworden ist.

Oskar Werner in der Rolle des Hamlet
Oskar Werner in der Rolle des Hamlet © KK

Das Hamletzitat

Als Autor oder Autorin hat man, glaube ich, besonders schlechte Karten in der Hand, um dieser Unwirklichkeitvermutung irgendwie zu begegnen. Man entwickelt ja von Berufs wegen die ganze Zeit nicht-reale Menschen. Und doch bleibt dieses „sich an eine schlechtere Erde Erinnern“ aus Dicks Rede auf eine sonderbare Weise berührend. Könnte man es als Mantra oder Maxime übernehmen, oder zumindest als Grundhaltung für das Geschichtenerfinden? „In Wahrheit lebe ich in einer ganz anderen Zeit.“ So lange man es dabei belässt, kann diese Ansicht Würde und Zauber verleihen. Die Zutat, die das Ganze meist vergiftet, ist der unsichtbar daran hängende Rest des Hamletzitats: „that ever I was born to set it right”, also dass ich geboren wurde, um sie, die aus den Fugen geratene Zeit, wieder gerade zu rücken.

Die Parallelwirklichkeit

Es ist unklar, ob Philip K. Dick sich selbst als „born to set it right“ empfunden hat. Einige Aktivitäten seiner späten Lebensjahre sprechen dafür, andere eher dagegen. Aber er beschäftigte sich obsessiv mit der Parallelwirklichkeit, die ihm andauernd aus den Ritzen und Fugen des kalifornischen Alltags der Siebzigerjahre entgegenzustrahlen schien. Die andere Welt stand im rechten Winkel zu dieser (in der Rede nennt er sie sogar explizit „orthogonal time“).

Die Verschwörungstheoretiker

Ich glaube, unsere gesamte gegenwärtige Geisteswelt ist, zumindest in dieser Hinsicht, Philip-K-Dick-Fan-Fiction. Verschwörungstheoretiker leben fleißig nach einer Vorstellung von Orthogonalzeit, nach einem immerwährenden und nie auflösbaren „Es mag wie X aussehen, aber in Wirklichkeit ist es Y“ und dem daraus folgenden Erwähltsein für die Aufgabe, den notwendigen Ausstieg aus der „falschen“ Zeit auch anderen zu ermöglichen. Man könnte nun der Meinung sein, die Menschen sollten ihre „Born-to-set-it-right-ness“ ablegen. Aber das Klima. Die Seuche. Die Ungerechtigkeit. Das Leid. Sollte es vielleicht mehr Leute geben, die sich „born to set it right“ vorkommen?

Zu den Waffen

Sollte Literatur, so wie es Dick in seiner Rede gegen Ende suggeriert, bei jenen, die sie lesen, wirklich „Erinnerungen an Parallelwelten“ wecken? Wäre das eine ermächtigende Utopiemühle, oder liefe man dadurch eher Gefahr, in seiner Leserschaft Phantom-Ressentiments und Landkarten von Scheinunterdrückung zu erzeugen? Ist es nicht schon zu oft vorgekommen, dass, nach langer friedlicher Koexistenz, sich Völker mitten in Europa urplötzlich kollektiv an erlittene Unterdrückungen durch ein anderes Volk erinnern zu können glaubten, und dann zu den Waffen griffen?

Poesie und Tollwut

Die Welt mit einem Philip K. Dick darin ist eine Sache. Aber lauter Philip K. Dicks, hunderttausende, als vorerst noch friedvolle Schläfermehrheit, die nur auf ihre Aktivierung wartet? Zu welcher Poesie und zu welcher Tollwut wird eine solche Masse fähig werden?

In der Buchhandlung

Aber mir fällt auf, dass ich bis jetzt den Titel von Dicks Rede unterschlagen habe. Er lautet: „If You Find This World Bad, You Should See Some of the Others“. Wenn ich diesen Titel lese, stelle ich mir jemanden vor, der in einer Buchhandlung zuerst auf den Boden deutet: if you find this world bad, und dann auf die tausenden Bücher ringsum in den Regalen: you should see some of the others. Aber nicht immer, das heißt, nicht immer denke ich mir diese Gesten in dieser Reihenfolge.