Die „Europäische Charta der Fußgänger“, die vom Europäischen Parlament im Oktober 1988 beschlossen wurde, hält in Artikel I fest: „Der Fußgänger hat das Recht, in einer gesunden Umwelt zu leben und die öffentlichen Straßen und Plätze zu angemessenen Bedingungen für die Sicherheit seiner körperlichen und seelischen Gesundheit frei zu benutzen.“ Wie so viele verbriefte Rechte tönt auch dieses zu gut, um auf Punkt und Beistrich wahr zu sein. Ja, mach nur eine Charta, hätte der eingefleischte Skeptiker Bert Brecht die fromme Sonntagsrede der EU-Bürokratie abgetan. Und stattdessen eine Realität angesprochen, die im Gegensatz zur hochgemuten Rhetorik steht.

Wem verpestete Städte die Atemluft nehmen und rabiate Auto- und Radfahrer-Kohorten das Sicherheitsgefühl, wird – Charta hin, Charta her – einem Fußmarsch eher wenig abgewinnen können. In urbanen Ballungsräumen, die weltweit wachsen und wuchern, gilt das Zufußgehen
ja ohnedies längst als anachronistische Form der Fortbewegung, die allenfalls zur Bewältigung ganz kurzer Distanzen gewählt wird. Wer etwa in US-amerikanischen Städten auf eigenen Beinen unterwegs ist, setzt sich sehr rasch dem Argwohn aus, ein mittelloses, verdächtiges Individuum zu sein, ein seltsamer Außerirdischer in einer Welt hochgerüsteter Mobilität.

Andererseits wankt diese Welt neuerdings gehörig. Das Stakkato der Krisen – Flüchtlingskrise, Klimakrise, Coronakrise – erschüttert nicht zuletzt die Glaubenssätze unseres Mobilitätsverhaltens, und da wächst dem weltfremden Biedersinn der Charta unversehens neue Brisanz und Bedeutung zu. Wer flüchtet, tut es zu Fuß. Wer das Klima schonen will, geht dafür auf die Straße. Und die in Zeiten von Corona zu Fuß gehen, tun es als Getriebene einer unheimlichen Bedrohung, denen jeder kleine Spaziergang recht ist, um einer drangvollen Enge zu entkommen.
Gleich den Outlaws auf Amerikas Straßen wirken auch die Wohnungsflüchtigen wie Außerirdische, die in gespenstischer Kulisse ihre Runden drehen. Manche führen Hunde an der Leine, manche laufen, manche schlendern, als sei eine wundersame Sanftheit über sie gekommen. Allesamt streifen sie durch Straßen und Gassen, deren körperhafte Stille mit einem Mal die Begleitmusik des Alltags wieder hörbar macht: das Klappern des Geschirrs, das Rücken von Tischen und Stühlen, das Greinen und Lachen der Kinder, das Hin und Her von Gesprächen, die als sur- reale Bruchstücke aus geöffneten Fenstern wehen.

Solchen Passagen durch Corona-Land ist stets ein Quantum Beklemmung beige- mengt. Gleichzeitig wecken sie die Erinnerung an das, was Gehen seit jeher und ursprünglich war: Selbstermächtigung, Raumgewinn, elementarer Akt der Weltaneignung. Die Fortbewegung auf zwei Beinen, für den turbomobilen Zeitgenossen kaum mehr als blinder Automatismus, gerät unter dem Druck der Situation wieder zum Inbild von Bewegungsfreiheit. „Ich gehe, also bin ich und bin ich mit mir“, bringt der Schweizer Publizist Aurel Schmidt diese Wertschätzung auf einen bündigen Nenner. Sie schließt das Wissen ein, dass Gehen nicht nur ein körperlicher, sondern auch ein geistiger Vorgang ist, der letztlich das Leben schlechthin abbildet und im Bild vom Lebensweg seine markanteste sprachliche Gestalt annimmt.