Sie braucht den Menschen nicht, jede Art der Zivilisation kann ihr gestohlen bleiben. Randexistenzen, Gestrandeten, aus rassistischen Gründen Ausgestoßenen bietet sie bereitwillig eine Bleibe, bequem allerdings ist sie nicht. Dennoch ist die Marschlandschaft von North Carolina, Schauplatz des Romans „Der Gesang der Flusskrebse“ von Delia Owens, ein Wunder der Natur. Reich an Schönheiten, die sich vielleicht erst auf dem zweiten Blick erschließen –oder gar nicht. „Marschland ist nicht gleich Sumpf. Marschland ist ein Ort des Lichts, wo Gras in Wasser wächst und Wasser in den Himmel fließt“, heißt es in einer Anfangsphase des Buches, die schon erkennen lässt, dass es sich hier auch um eine Liebeserklärung an die vermeintliche Wildnis handelt.

Großes Wagnis

Aber in ihrem Debütroman strebt die US-Zoologin, die zuvor gemeinsam mit ihrem Mann einige exzellente Werke über die Tierwelt Afrikas schuf, nach weitaus mehr. Sie will grandiose Naturschilderungen mit einer Liebesgeschichte, einem Kriminalfall und einer Chronik der Sehnsüchte und der Einsamkeit verbinden – ein Wagnis, das sie, frei von Sentimentalitäten oder Kitsch, virtuos und eindringlich in die Tat umsetzt.
Das gelingt der 69-jährigen Autorin dank der von ihr geschaffenen Protagonistin, der man in der Literaturwelt nicht allzu häufig begegnet. Kya heißt sie, in armseligsten Verhältnissen wuchs sie auf, ihr Vater, Trinker und Spieler, tyrannisierte und vertrieb die gesamte Familie, ehe auch er selbst verschwand. Das Mädchen, knappe sechs Jahre alt, bleibt alleine zurück. Für Kya beginnt ein Überlebenskampf, den sie wohl auch deshalb gewinnt, weil ihr die Gesetze der Natur und all deren Geschöpfe weitaus vertrauter sind als die Menschen mit ihrem engstirnigen, genormten Dahinvegetieren. Raffiniert pendelt Delia Owens zwischen zwei Zeitebenen, durch zehn Jahre getrennt. Letztlich landet Kya, von den Bewohnern des nächsten Dorfes stets nur das „Marschmädchen“ genannt, vor Gericht. Die Anklage lautet auf Mord. Tatmotiv: Eifersucht.

Reich an Zwischentönen

Es wäre müßig und wohl auch falsch, nähere Details zu schildern. Dieser „Gesang der Flusskrebse“ ist enorm reich an großartigen, unerwarteten Zwischentönen mit langem Nachhall. Der Roman, in den USA bereits millionenfach verkauft, ist ein literarisches Naturereignis, das nicht nur lautstark nach möglichst rascher Lektüre, sondern auch nach baldiger Verfilmung ruft; die Weichen dafür wurden mittlerweile bereits gestellt. Wobei abzuwarten bleibt, ob es der Film an Bilderreichtum, Tiefenschärfe und Intensität mit dem Buch aufnehmen kann – sicherlich das schlechteste Kräftemessen nicht.

Lesetipp: Delia Owens. Der Gesang der Flusskrebse. Hanserblau, 460 Seiten, 22,70 Euro.