Time is out of joint – ja, so könnte man beginnen. Dieses Shakespeare-Zitat ist für alle sofort verständlich, niemand wird bestreiten, dass die Zeit heute aus den Fugen ist. Aber was das genau bedeutet, das legt jeder anders aus, und schon haben wir ein Problem. Außerdem wissen wir von Hamlet, dass so etwas kein gutes Ende nimmt. D.h., das, was aus der Fugenlosigkeit der Zeit erwächst, ist meist Krieg und Gewaltherrschaft. Und leider muss man heute sagen, diese Kriege erwachsen nicht mehr, sie umgeben uns bereits. Ein Feuerring habe sich um Europa gelegt, so wird die vielfache Krisensituation an den Rändern des Kontinents beschrieben, auch wenn sich in diesem Jahr zum ersten Mal seit 2012 etwas bessere Befunde ergeben. Wenn die Zeit aus den Fugen gerät, verlieren die Dinge ihren Bezugsrahmen, und wir die Orientierung. Wem soll man noch glauben? An was soll man sich halten? Wie kann man überhaupt noch handeln? (....)
Während sich Datenberge zu einem unüberwindlichen Vergangenheitsgebirge auftürmen, auf die nur scheinbar unbegrenzt Zugriff besteht, haben wir die Zukunftshorizonte geschlossen und vermeintlich jegliche Wahlmöglichkeit verloren. Die allgemeine Alternativlosigkeit ist ausgebrochen, konterkariert von jener ruppigen Alternativwut, die rein destruktiv ist und meist beide Augen verschließt. Die Szenarien sind bereits zu Ende erstellt. Die Zukunft existiert nur in den Versionen zwischen 1,5 oder 3-4 Grad Erderwärmung. Wir ringen in den Fridays for future bereits um den ganzen Planeten, ein unfasslich großes Bild, zu groß für unsere menschlichen Dimensionen. (...)
Einmal fragte ich Schauspieler, inwiefern sich das Publikum in den letzten Jahrzehnten verändert habe. Ein älterer Schauspieler antwortete mir: Wenn er heute in Richtung Publikum blicken würde, würde er im Gegensatz zu früher bläulich beleuchtete Gesichter sehen. Beleuchtet vom Widerschein der Handies, die die doch eigentlich Zusehenden während einer Theateraufführung bedienten. Seither fallen mir die beleuchteten Gesichter überall auf. In Autos, U-Bahnen, Zügen, Hörsälen. Aber es sind nicht nur die Medien, die uns aus dem Präsens reißen, auch die enge Taktung eigentlich der meisten beruflichen Welten, das Multitasking, sie sind regelrechte Killer des wahrgenommenen Augenblicks. Zu vieles findet einfach gleichzeitig statt und verlangt unsere Aufmerksamkeit.
Aus alldem entsteht eine neue Krankheit. Die Angst zu verpassen heißt sie, die auch schon einen Namen hat: FOMO (Fear of missing out), die nur kuriert werden kann mit JOMO (joy of missing out), als gäbe es nur diese beiden Optionen. Heute Abend, soviel sei verraten, sollten Sie beides nicht benötigen.

Wo fängt die Arbeit an, wo hört sie auf?


Der Philosoph Jacques Rancière schreibt über das politische Tier Mensch, dass es ein sprechendes ist. In die griechische Philosophie zurückgehend entwickelt er folgenden Gedanken: „Doch der Sklave besitzt die Sprache nicht, obwohl er sie versteht. Nach Platon können sich die Handwerker nicht um die gemeinsamen Angelegenheiten kümmern, weil sie nicht die Zeit haben, um sich etwas anderem als ihrer Arbeit zu widmen. Sie können nicht anderswo sein, denn die Arbeit wartet nicht.“
Das klingt doch arg vertraut, oder? Die Arbeit wartet auch heute nicht, sie düst mit vielen von uns davon, schickt alles in die ewige Beschleunigung. Aber wo fängt die Arbeit an, wo hört sie auf? Das zu definieren ist in unserer Zeit viel schwieriger. Es gilt ja permanent als Tugend, an Tempo zuzulegen oder an Fahrt zu gewinnen. Selbst Tiere werden jetzt so gezüchtet, dass sie schneller wachsen, insofern auch schneller alt werden, um schneller sterben zu können. Das Beschleunigungs-Gen wird allem zugesetzt, selbst technischen Geräten, denn diese Beschleunigung erhöht einfach den Umsatz. Die Arbeit wartet nicht, aber was ist es noch, was mit ihr nicht wartet? Die Müllberge im Pazifik etwa, mittlerweile so groß wie ein neuer Kontinent? Was passiert dabei mit uns, den gänzlich Unerwarteten? Wenn wir nicht mehr über die Sprache verfügen, die wir gemeinsam sprechen könnten, weil wir keine Zeit haben, dann könnten wir doch immerhin fragen, was das für eine Sprache wäre? Ist sie eine musikalische? Besteht sie überhaupt aus Tönen, Lauten?

Die Fähigkeit zum Teamwork


Mein letztes Konzert hat mich eher visuell beschäftigt. Es war ein Konzert des Ensemble Modern in der Berliner Philharmonie, und ich muss zugeben, ich habe mehr zugesehen als zugehört. Denn ein Orchester zu erleben, das nach vierzig Jahren gemeinsamer Tätigkeit so aufeinander eingestimmt ist, mit solch einer Aufmerksamkeit sich einander zuwendet, ist etwas Wundervolles, und das Schauspiel, das sich mir bot, ist jenes, das der Soziologe und Cellist Richard Sennett in seinem Buch „Zusammenarbeit“ beschrieben hat. Er stellte darin anhand der Musik die außerordentliche Fähigkeit zum Teamwork dar, die unsere Gesellschaften über Jahrhunderte herausgebildet haben, und die heute wieder in Bedrängnis gerät – dieses Teamwork ist nicht etwa mit absolutem Gleichklang zu verwechseln, im Gegenteil, sie ist gerade das Kunstwerk, Verschiedenes zu vereinbaren, und erfordert eigentlich wachsende Ohren. Ja es war auch für mich eine erstaunliche Erkenntnis, dass unsere Ohren nicht ausgewachsen sind, dass sie stets weiterwachsen müssen. (...)
Als Mahatma Gandhi beispielsweise gefragt wurde, was er über die europäische Aufklärung denke, soll er geantwortet haben, das hielte er für eine gute Idee. In diesem Sinn müssen wir Dinge erfinden, die es vermeintlich schon gibt, immer wieder, sei es die Aufklärung, das Zusammenarbeiten, oder gar das Zuhören, diese durchaus heikle Aufgabe. Heute Abend könnten wir genau mit ihr anfangen, in gewisser Dosierung soll das sogar bewältigbar sein. Haben Sie also vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!