Ausgeprägte Berührungsängste, sie gehören nur zu einer Vielzahl sonderbarer Merkmale, die den Wesen dieses ganz und gar herausragenden Buches innewohnen. Einige Personen formieren sich zu einer kleinen Gruppe; sie erwarten, keineswegs zum ersten Mal, die Ankunft von Monstern. Ein naiv-kindhaftes Routine-Ritual. Offen bleibt, ob die Wartenden nicht ahnen, nicht wissen wollen, dass die machtbesessenen Monster in Menschengestalt längst ihr Unwesen treiben. „Es ist nur ein Spiel, aber man muss es ernst nehmen und sich an die Regeln halten“, heißt es.

Übergangsbereiche

Man muss ihn sehr ernst nehmen, diesen sprachlichen und geistigen Grenzforscher Thomas Stangl, der nach mehreren grandiosen Romanen mit „Die Geschichte des Körpers“ nun seinen ersten Band mit 30 Erzählungen präsentiert. Und der dabei ohne Umschweife dem ohnehin nur flackernden Schein von Wirklichkeit und Wahrheit das Licht ausbläst. Kompromisslos, subversiv, mit wohldosierter, feinsinnig Ironie lässt der Wiener Autor jegliches gesicherte, ohnehin oft ausgetrampelte Terrain des linearen Erzählens weit hinter sich. Seine Bleibe findet er im Übergangsbereich zwischen Realität und Parallel- oder Gegenwelt, dort, wo es ein völlig eigenes Zeitmaß gibt, dort, wo die Erinnerungen beginnen, ein Eigenleben zu führen. Manche Figuren, die Thomas Stangl in diese Zwischenräume entlässt, scheinen in einer Zeitschleife zu stecken. Mehrmals tauchen Touristen auf, die wohl Flüchtlinge sind, einige wissen nicht, ob sie sich nun in Paris oder London befinden. Die „Geschichte der Städte“ beginnt mit einer famosen Feststellung: „Jeder weiß, dass London eine ziemlich kleine Stadt ist.“

Fixstern

Ein trivialer Satz? Keineswegs. Er ist exemplarisch für Thomas Stangls Bestrebungen, jegliche auch nur halbwegs gesicherte Wahrheit aufzuheben und ein Größtmaß an Gleichzeitigkeit zu erreichen. Er serviert keine lebenskundlichen, verschlissenen Erkenntnissen, er setzt dem Trott der Realität sein Miteinander von Gegensätzen entgegen. Manche Geschichten umfassen kaum eine Seite, die kürzeste, skurrilste ist nur drei Zeilen lang; es genügt, damit sie sich im Kopf fortsetzt. Dies gilt auch für die tief berührende, preisgekrönte Erzählung „Die Toten von Zimmer 105“, die von der Demenz und dem Sterben in einem Alten- und Pflegeheim handelt.
„Manchmal möchte ich die Sterne essen“, betitelte der 53-jährige Wiener Autor einen exzellenten Essay über einen seiner Brüder im Geiste, Michael Leiris. Mit seinem Erzählband öffnet Thomas Stangl den Weg in einen literarischen Kosmos. Dass er selbst darin einem wahren, strahlenden Fixstern am Literaturhimmel gleicht, dieses Lob wird er sich gefallen lassen müssen.

Buchtipp: Thomas Stangl. Die Geschichte des Körpers. Droschl, 128 Seiten 18 Euro.