Paul liebt Susan. Er ist 19 Jahre alt, nicht nur sexuell völlig unerfahren. Sie ist 48, verheiratet und Mutter von zwei Töchtern. Beide leben in einem einigermaßen noblen Vorort Londons, wo jedes vermeintliche Geheimnis sich unverzüglich in Tratsch verwandelt. Die Konstellation ist, bedingt durch den Altersunterschied, ungewöhnlich, aber kein Einzelfall. Und sie besitzt reichlich viele Voraussetzungen, um unweigerlich in Klischees zu münden, wo eine Unzahl ähnlicher Geschichten Museumsreife erlangten.
Aber all das kann funktionieren und glücken, wenn der exzellente Beziehungs-Feldforscher Julian Barnes seine Hände im Spiel hat. Weil er über die rare Gabe verfügt, seine Leserschaft vom ersten Satz an mit hineinzuziehen in ein emotionales Wechselspiel, in jenen Ausnahmezustand, den die große Liebe des Lebens mit sich bringt, geprägt durch die Überzeugung, dass diese Liebe unvergänglich ist und kein Schatten sie trüben kann.

Auf die Katastrophe zu

Barnes ist überzeugt, dass dieses gemeinsame Leben und Erleben das Fundament aller späteren Erinnerungen bildet. Deshalb wird „Die einzige Geschichte“ auch im Rückblick erzählt. Paul, in die Jahre und mit sich ins Reine gekommen, lässt in sehr sachlichem Ton all die ereignisreichen Jahre Revue passieren, in direkter Rede mit seiner Leserschaft. Er erzählt, oft lückenhaft, von all den anfänglichen Höhenflügen, der Illusion, die Welt aus den Angeln heben zu können. Aber er schildert auch jene Zeiten, in denen die Realität ihre Daseinsberechtigung fordert, diesfalls auf katastrophale Weise. Weil zur einzigen, einzigartigen Geschichte auch das Ablaufdatum und der Zerfall gehören.

Schmerzhaft schön

In der Liebe ist alles wahr und falsch zugleich. Sie ist das einzige Phänomen, das keinerlei Absurdität kennt. Das ist eine der vielen Lektionen, mit denen Barnes, ausgewiesener Flaubert-Experte, nahtlos, zeitgemäß, anknüpft an dessen „L’Éducation Sentimental“. Dem britischen Autor glückte ein schmerzhaft schönes Meisterwerk, in das man sich glatt und auf Anhieb verlieben muss.

Lesetipp: Julian Barnes: Die einzige Geschichte. Kiepenheuer & Witsch. 304 Seiten, 22,70 Euro.