Tanzjungen. So werden in der afghanischen Stadt Kandahar als Mädchen verkleidete Knaben genannt, die verführerische Tänze vollziehen, ausgebildet und erzogen, um „dem Vergnügen der Männer zu dienen“. Es ist ein uralter, offiziell verhasster Brauch, der sich aber geheim größter Beliebtheit erfreut. Der Rollentausch ist, neben dem haltlosen Fanatismus, auch ein zentrales Thema des Romans von John Wray: „Gotteskind“ lässt sich als private Apokalypse deuten, hat aber auch exemplarischen Stellenwert.
Knappe 18 Jahre alt ist die Protagonistin Aden Sawyer. Einige Monate später wird sie den Namen Suleyman Al-Nam’ama tragen, irgendwo im afghanischen Gebirge in einer Höhle hocken, umgeben von Mudschahedin. Ausgestattet mit der einzig noch verbliebenen Gewissheit. Jener, dass ihr Versuch, ihrem Leben einen Sinn zu geben, als Märtyrerin, in völlige Absurdität und Selbstauslöschung mündete. Aden stammt aus einer halbwegs intakten US-Familie. Ihr Vater ist Orientalist, die Tochter beschäftigt sich jahrelang intensiv mit dem Koran. Aden wechselt, beeindruckt von den Schriften, nicht nur ihren Glauben, sie ist bereit, in den „Heiligen Krieg“ zu ziehen.

Ständige Lebensgefahr

Mit ihrem aus Pakistan stammenden Freund reist sie in ein pakistanisches Dorf, um eine Koranschule zu besuchen. Sie tut dies unter ständiger Lebensgefahr, getarnt als Jüngling, mit kurz geschorenem Haar und bandagiertem Oberleib, um ihre Brüste zu verbergen. Aber Aden alias Suleyman will mehr – die Aufnahme in Dschihadisten-Kreise. Ihren Pass hat sie längst weggeworfen. Der persönliche Identitätsverlust mündet rasch in paranoide Zustände.
John Wrays Roman ist eine Reise an den Beginn der Nacht. Lange verzichtet der 47-jährige Amerikaner mit familiären Wurzeln im kärntnerischen Friesach auf zeitliche Angaben, aber angesiedelt ist seine Geschichte rund um die Terroranschläge in New York. Der Meister präziser Beobachtungen wertet nicht, zeigt aber, wie elastisch die Auslegung von Glaubenslehren da wie dort sein kann und wie aus dem Versuch, das Fremde zu verstehen, ein aussichtsloser Kampf gegen das Unvereinbare werden kann.
„Gotteskind“ führt zurück in eine durch Fundamentalismen aus allen Fugen geratene Welt, deren Risse rasant zu Abgründen werden. Ein unentbehrliches Schlüsselwerk, das auch den Existenzialismus zu neuem Leben erweckt, in ungeheuerlicher Dimension.

Lesetipp: John Wray: "Gotteskind". Rowohlt, 352 Seiten, 23,70 Euro.

Lesung: Am 5. 2. liest John Wray im Literaturhaus Graz aus seinem neuen Roman. Beginn: 19 Uhr.