Entfremdung, Verrohung, Hilflosigkeit. Der österreichische Regisseur Michael Haneke ist in den vergangenen Jahrzehnten zu einem der bedeutendsten Chronisten des gefühlskalten Wohlstandselends avanciert. Doch Hanekes Filme hätten nie solche Kraft ausgestrahlt, hätte er in seinen Panoramen einer von Eis umgürteten Menschlichkeit nicht ein tief humanistisches Bild eingehegt. Unverkennbar inspiriert vom französischen Regisseur Robert Bresson, ruft Hanekes Kino der Entwürdigung die Würde des Menschen ins Gedächtnis. Dass die Würde des Menschen antastbar ist, wird in seinem Werk zu einer in beispielhafter Strenge vorgetragenen Warnung. Die Präzision und Schärfe, mit der Haneke dabei vorgeht, werden ihm gern als Kälte ausgelegt, sind jedoch eher Folge eines radikalen Willens zur Ehrlichkeit.

Radikal entschlackt ist der Buchziegel, der Michael Hanekes Drehbücher präsentiert. Kein einziges Foto, kein einziger erklärender Satz zu den Filmen, keine Einleitung, kein Abspann. Nur die auf mehr als 1300 Seiten ausgebreiteten Fundamente seiner Filme. Wobei die Fernseharbeiten (wie etwa ein „Tatort“ namens „Kesseltreiben“ oder die Kafka-Adaption „Das Schloss“) nicht berücksichtigt sind. Die Kinofilme von „Der siebente Kontinent“ bis zu „Happy End“ bieten genug Stoff. Vom eher allegorischen „Siebenten Kontinent“, in dem eine Kleinfamilie vor der Qual des Lebens gemeinschaftlich in den Tod flüchtet, über Endzeitdramen wie „Wolfszeit“ und das an Ingmar Bergman erinnernde „Das weiße Band“ bis zum markerschütternden „Liebe“ läuft hier das Kopfkino ohne Unterlass. Diese Kunstwerke funktionieren tatsächlich auch ohne Bilder. Atemberaubend ist lesend zu erfahren, wie es Haneke gelingt, seine Filme gegen Ende zu verdichten. In atemloser Spannung fiebert man dem düster dräuenden Schluss zu, den Haneke stets aufs Neue in genialischer Dramaturgie vorbereitet.

Der Band dokumentiert den stilistischen Wandel des Œuvres. Zwischen den gespreizt genau choreografierten Filmen der Anfangszeit mit vielen Nahaufnahmen und langen, grüblerischen Einstellungen reifte Hanekes Filmsprache zu stiller Wucht, die auch die Kunst des Auslassens und Andeutens perfektioniert.

Die besten der Filme wirken nie manieriert oder sind (wie bei Kollege Ulrich Seidl) von ihrer Form besessen. „Liebe“ fängt unvergessliche Momente von Aufopferung, Wut, Verzweiflung und Zuneigung ein, „Das weiße Band“ ist in einem sinnfernen Kosmos angesiedelt, in dem jeder Opfer und Täter ist. „Hier dominieren Böswilligkeit, Neid, Stumpfsinn und Brutalität“, klagt eine der Figuren dort. Ein bitterer Befund, dem Hanekes Inszenierungen letztlich entgegentreten. Gerade in einer solchen Welt darf uns die Sorge um die Würde jedes Einzelnen keine Ruhe lassen.
Michael Haneke.Die Drehbücher. Hoffmann und Campe, 1334 Seiten, 55,60 Euro.