Ein Porzellanteller mit brüchigem Goldrand, gefüllt mit klarer Suppe. Daraus fischte das Kind die Einlage: zierliche Buchstaben aus Teig. Und die Mutter sagte zum Kind: „Es liegt an dir. Du hast mit einem Löffel voll Buchstaben dein Leben, die Welt in der Hand.“ Im Band „Als ich noch unsterblich war“, in dem Christoph Ransmayr 13 Erzählungen aus der Reihe „Spielformen des Erzählens“ versammelt, geht es in der Titelgeschichte um die wunderbare Entdeckung der Wortwelt mittels Buchstabensuppe. Die Geschichte endet damit, dass Christoph Ransmayr am Totenbett der Mutter steht und diese erschöpft ihren Zeigefinger wortlos auf die weißen Lippen legt und dem Sohn deutet: Still! Sei still. Der spätere Schriftsteller lernt daraus, „daß bei aller Kostbarkeit und allem Glanz des Zaubers der Verwandlung in Sprache, in Schrift, der ungeheuerliche und unfaßbare, in den Abgründen eines grenzenlosen Raumes verlorene Rest doch - Schweigen war.“

Erzählen und Schweigen. Schreiben, wenn es notwendig ist und Stillsein, wenn es geboten ist. Christoph Ransmayr beherrscht dieses aus der Mode gekommene Wechselspiel wie kaum ein anderer, tüftelt monatelang an einem ersten Satz, lässt sich mitunter zehn Jahre Zeit für einen neuen Roman, zelebriert den Zyklus aus Präsenz und Abwesenheit. Dem Jahrmarkt der literarischen Eitelkeiten entzieht er sich weitgehend, sein nahezu manischer Perfektionismus gilt ausschließlich dem geschriebenen Wort. Erzählen und schweigen.

Am 20. März feiert Christoph Ransmayr seinen 70. Geburtstag. 29 an ihn verliehene Literaturpreise listet der Fischer-Verlag auf, in 30 Sprachen wurde sein Werk übersetzt. Geboren in Wels, verbrachte er seine Kindheit in Roitham bei Gmunden. Studium der Philosphie und Ethnologie an der Universität Wien, erste journalistische Tätigkeiten als freier Mitarbeiter für Zeitschriften wie „Merian“ oder „Geo“. 1984 erschien der erste Roman „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ über die österreichisch-ungarische Nordpolexpedition 1873, mit dem nachfolgenden Ovid-Roman „Die letzte Welt“ gelingt ihm der Durchbruch. Es folgen der ebenso brillante wie düstere Endzeitroman „Morbus Kitahara“ (1995), „Der fliegende Berg“ (2006), „Atlas eines ängstlichen Mannes“ (2012), „Cox oder Der Lauf der Zeit“ (2016) und „Der Fallmeister“ (2012). Dazwischen veröffentlicht Ransmayr jene zwölf „weißen Bände“, in denen er den unterschiedlichsten Spielformen des Erzählens auf den Grund geht.

„Schreiben gleicht manchmal dem Weg in die Wildnis: Da wie dort öffnen sich scheinbar grenzenlose, menschenleere Räume, in denen es aber nur wenige gangbare Wege gibt“, sagt Ransmayr in einem von Insa Wilke herausgegebenen Materalienband, in dem der Schriftsteller über die Alchemie des Erzählens spricht, wobei für ihn die Zauberformel buchstäblich in der Erfahrung der Welt liegt. „Wenn du phantasieren willst, brauchst du die Wirklichkeit.“ Ransmayr ist kein Theoretiker, er ist ein Vielreisender, der die Welt mit allen Sinnen be- und ergreifen muss, um sie später in Worte, Sätze und Erzählungen gießen zu können – mit allen Risken, denn: „Natürlich führt der Weg ins Innere einer Geschichte manchmal weit fort aus aller Geborgenheit und manchmal in eine quälende Verlassenheit.“

Der Porzellanteller mit brüchigem Goldrand, gefüllt mit klarer Suppe und zierlichen Buchstaben, damit hat alles begonnen: „Daß man im Wort Meer nicht ertrinken, in das Wort Abgrund nicht fallen und im Wort Packeis nicht erfrieren konnte, schenkte dem Zauber der Verwandlung von etwas in Sprache etwas seltsam Friedliches ...“

Christoph Ransmayr. Als ich noch unsterblich war. S. Fischer, 221 Seiten, 25,50 Euro.

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