"Man kann Bachmann-Gedichte nicht rappen“, schmunzelt der Germanist Hubert Lengauer angesprochen auf zeitgenössische Lyrik in Form von Slam Poetry. „Die Bachmann muss man langsam lesen, da sind Pausen erforderlich!“ Doch gereimte, gerappte Texte liegen heute im Trend, erreichen Aufmerksamkeit, während klassische Lyrik oft nur ein Mauerblümchen-Dasein führt. „Heute ist es so mühsam, dass einer zuhört, es hört keiner mehr zu“, verweist Lengauer auf den gesunkenen gesellschaftlichen Status von Dichtern.

Briefe statt Buch

In den 1950er- und -60er-Jahren war das anders. Ingeborg Bachmann war schon eine berühmte Literatin, als sie 1955 den drei Jahre jüngeren Hans Magnus Enzensberger bei einer Tagung der Gruppe 47 kennenlernte. Zwei Jahre später nimmt „mang“, wie er seine (konsequent in Kleinschreibung gehaltenen) Briefe unterzeichnet, Kontakt zur prominenten Kollegin auf, die damals beim Bayerischen Rundfunk in München arbeitete. Er will mit ihr zusammen ein Buch machen, „ein Buch, das fliegen kann“. Aus dem Buch wird zwar nichts, doch es entsteht ein rund zehnjähriger Briefwechsel. Dessen 130 Schreiben mit einer detailreichen Fülle an Anmerkungen und Fußnoten sowie einem aufschlussreichen Nachwort des Herausgebers Lengauer liegen nun als dritter Band einer umfassend geplanten Bachmann-Werkausgabe (Kooperation der Verlage Suhrkamp und Piper) vor. Darin wird subtil Klischees zu Leibe gerückt.

Hubert Lengauer
Hubert Lengauer © privat

Poetisch und politisch

„In der Literaturgeschichte neigen wir immer zu Schematisierungen“, meint Lengauer selbstkritisch. Zu zeigen, dass „die Bachmann“ nicht nur die verschlossene, fragile Lyrikerin und „der Enzensberger“ nicht nur der zornige, junge Mann war, ist dem Wissenschaftler ein großes Anliegen. Die Kärntner Autorin ist demnach nicht nur poetisch, sondern auch politisch sehr engagiert gewesen: Sie machte bei Anti-Atomkraft-Initiativen mit, unterstütze Willy Brandt und protestierte gemeinsam mit französischen Intellektuellen gegen den Algerienkrieg. Hans Magnus Enzensberger tat das auch und plante sogar ein internationales Zeitschriftenprojekt („Gulliver“), in dem deutsche, italienische und französische Autoren schreiben sollten, mit dem man letztlich aber „auf keinen grünen Zweig gekommen“ ist (Lengauer). Doch im Briefwechsel wird noch eine andere Seite des robusten Machers sichtbar, der übrigens heuer im November 90 Jahre alt wird – die des schwärmerisch Verliebten. Verträumt, metaphernreich und poetisch wirbt er um die verehrte Freundin.

Die Zeit steht still

Der Wechsel vom Sie zum Du in den Briefen folgt nach einem gemeinsamen Aufenthalt in Rom. Hier hat Enzensberger ein Stipendium in der Villa Massimo bekommen, von wo er aber mit Frau und Tochter bald aufs Land flüchtete. Bachmann lebte damals schon mit Max Frisch zusammen, der hatte sie aber wegen seiner Hepatitis-Erkrankung von Zürich nach Italien geschickt. Was in Rom passierte, ist nicht dokumentiert, doch nach einer mehrwöchigen Pause im Briefwechsel wird der Ton intimer: „Seit deiner Abreise steht die Zeit still“, schreibt „mang“, der nach der Rückkehr Bachmanns in Rom geblieben ist, an „meineingeborg“.

Schwärmerei und Freundschaft

Die folgenden Briefe sind „nicht frei von einer gewissen erotischen Atmosphäre, die sich besonders in den Briefen des Sommers 1959 ausdrückt, wo Enzensberger ihre Abwesenheit beklagt“, erklärt Hubert Lengauer, der in seiner Edition der Briefe taktvoll die Schlüssellochperspektive vermieden hat. Der umtriebige Autor, ein „heiteres Gemüt“, an dem „Niederlagen bald abperlten“ (Lengauer), überwand seine Schwärmerei bald und blieb der schwermütigen Literatin ein lebenslanger Freund.

Liebesleid und Todesarten

1962 kam es zum für Ingeborg Bachmann „desaströsen Bruch“ mit Max Frisch – Liebesleid, das „ihre Produktion sozusagen angeheizt hat“, analysiert Lengauer mit Hinweis auf das damals entstandene „Todesarten“-Projekt. Und verweist auf eine ironische Bemerkung, die von Heinrich Heine überliefert ist: „Wäre ich so glücklich, jetzt noch eine unglückliche Liebe erschwingen zu können, so wäre ich ein gemachter Mann.“ Wie authentisch sind diese beiden Schriftsteller-Persönlichkeiten in den Briefen, die sie einander geschrieben haben? „Es geht darin nicht nur um Fakten und Mitteilungen, es geht auch immer um Selbstdarstellung“, meint Lengauer. „Wenn man einen neuen Briefpartner hat, hat man auch die Möglichkeit, sich selbst neu zu erfinden. Enzensberger hat das genützt, wollte sich ihr präsentieren. Bachmann war da ein bisschen weniger offensiv.“ So schrieb der junge Dichter seinen ersten Brief an Bachmann auf Hotelbriefpapier aus Texas. „Da war schon Renommiersucht auch dabei – schau her, wer ich bin!“, schmunzelt der Germanist im Gespräch.

Feministischer Blick

Jede neue Werkausgabe, jeder edierte Briefwechsel fügt wie in einem Puzzle ein Stück Persönlichkeit der Porträtierten hinzu. Hat sich dadurch die Bachmann-Rezeption verändert? Wie liest man sie heute? „In den letzten Jahren dominiert vor allem der feministische Blick auf die Bachmann, die Konzentration auf die Mann-Frau-Beziehung, in der für Bachmann Krankheit und Gefahr immanent waren.

Schmerzfreie Beziehung

In diesem Zusammenhang ist der Briefwechsel mit Enzensberger eine Besonderheit, war die Beziehung zu ihm doch eine weitgehend schmerzfreie“, analysiert der Germanist, der die Autorin zu Lebzeiten als „europäische Intellektuelle von Format“ beschreibt. Und was ist mit den Intellektuellen von heute? „Was sich sicher sehr stark geändert hat, ist der Status von Autoren“, resümiert der Wissenschaftler. „Vor allem vor 1968 gab es ja einen großen Statusanspruch der Autoren. Die sind mit ihrem ganzen Habitus im Bewusstsein aufgetreten, wichtige Repräsentanten einer wichtigen Sache zu sein.“ Man denke nur an Günter Grass oder Heinrich Böll, die ganz bewusst politisch agierten. Ingeborg Bachmann, 1954 mit einem Coverfoto auf dem Magazin „Der Spiegel“ gefeiert, „hat sich auch selbst als Star inszeniert und konnte sich Figuren wie Marilyn Monroe und Maria Callas nahe fühlen.“

Auch Enzensberger wurde hofiert, wie Hubert Lengauer erzählt. Auf Einladung der Russen besuchte er den sowjetischen KP-Chef Chruschtschow einmal auf dessen Datscha. Dort hatte sich Enzensberger zum Schwimmen dann dessen Badehose ausgeborgt. Und der deutsche Kanzler Helmut Schmidt habe einmal den Autor Max Frisch auf eine Reise nach Japan mitgenommen: „Welchen deutschen Autor kann man sich heute vorstellen, der zu Putin in die Datscha fährt? Wen würde Merkel zu Trump mitnehmen? Heute undenkbar!“