Schnell wurden am Freitag die Gäste im ORF-Theater in Klagenfurt bei der ersten Lesung des zweiten Lesetags des Bachmann-Wettbewerbs aus ihrer Morgenlethargie gerissen: In ihrem Text "Der Nächste, bitte!" ließ Corinna T. Sievers eine erotomane Zahnärztin ihrer Obsession nachgehen. Sex am Behandlungsstuhl, das war neu für die Tage der deutschsprachigen Literatur, der Jury aber zu wenig radikal.

Corinna T. Sievers
Corinna T. Sievers © (c) APA/GERT EGGENBERGER (GERT EGGENBERGER)

Sehr explizit schildert die Ich-Erzählerin ihr ständiges Begehren, während sie dem Patienten K. nach einer kurzen Erstuntersuchung seines Kiefers zielstrebig an die Hose geht. Die Unfähigkeit, sich ihrer ständigen Lust zu widersetzen, führt allerdings bereits merkbar zu Geschäftsrückgang: "Natürlich leidet mein Ruf. Der Ort ist klein, nichts bleibt unbemerkt." Besonders pikant an Sievers' Text ist der Umstand, dass die 1965 auf der Ostseeinsel Fehmarn geborene und heute in Herrliberg am Zürichsee lebende Autorin im Hauptberuf als Kieferorthopädin arbeitet. In ihrem Beruf sei sie sehr angepasst, sagte sie einmal in einem Interview. "Das heißt aber auch, dass ich alles Wilde und Unartige nicht ausleben darf. Ich glaube daher, dass ich alles, was ich nicht sein darf, in meine Figuren lege und mich dort austobe und auch etwas verarbeite."

Entsprechend ätzte Juror Klaus Kastberger: "Ich habe mich gefragt, was am Montag in Ihrer Praxis los sein wird", und befand: "Es ist ein hausbackener Text." Mehrheitlich warf die Jury ausgerechnet diesem Text mangelnde Radikalität vor, ein Umstand, der nicht nur Juror Hubert Winkels belustigte. Doch auch Winkels gab zu: "Er ist nicht radikal, sondern well-made." "Mir ist der Text bei weitem nicht radikal genug, inhaltlich wie sprachlich", sagte auch Hildegard E. Keller: "Der Text bleibt stecken in der Pose der Provokation."

Insa Wilke etwa monierte: "Es fehlt sprachliche Radikalität. Es ist ein Text, der mehr auf Effekt setzt." Wilke brachte, wie weitere Juroren, noch einen zweiten wesentlichen Einwand vor: "Hier soll provoziert werden, eine Antwort gegeben werden auf den männlichen Sexismus. Ich habe den Verdacht, dass Sie genau das nicht tun, sondern im Prinzip eine Männerfantasie nachschreiben: Eine Frau, die es unbedingt will." Kastberger erinnerte an den Versuch, das weibliche Begehren anders zu beschreiben, wie es etwa Elfriede Jelinek in "Lust" praktiziert habe. Diesen Versuch unternehme Sievers nicht, sondern schaffe kammerspielartig "ein pornografisches Setting von der Struktur des Textes her". Einzig Nora Gomringer verteidigte die von ihr Eingeladene: Es sei eigentlich eine Liebesgeschichte, die zudem auch große Komik besitze. Die Umdrehung der männlichen Perspektive sei legitim, kritisierte sie die Haltung ihrer Jury-Kolleginnen und -Kollegen: "Hier wird einer Frau das Recht abgesprochen, wie ein Mann denken und handeln zu dürfen!"

Ally Klein

Ally Klein
Ally Klein © APA/GERT EGGENBERGER

Mit ihrem stakkatoartigen Vortrag brachte anschließend die 1984 geborene Berlinerin Ally Klein viel Schwung in den Saal: Sie trug einen Auszug aus ihrem am 10. August im Grazer Droschl Verlag erscheinenden Debütroman "Carter" vor - eine unheimliche und beklemmende Geschichte, die Annäherung einer Figur an eine Hütte, die mit einer Begegnung mit einer geheimnisvollen Frauenfigur schließt, die offenbar im Zentrum des Romans steht. "Selten erzeugt ein Debütroman eine derartige Sogwirkung wie 'Carter'.", wirbt der Verlag. Dem konnten sich Klaus Kastberger und Stefan Gmünder anschließen: "Ein toller Text mit einem unheimlichen Sog. Ich bin sehr begeistert", so Gmünder.

Hildegard E. Keller bedankte sich bei der Autorin für ihren "in ein Crescendo ausgearteten" Vortrag: "Sie haben dem Text eine physische Dringlichkeit gegeben." - "Dieser Text lebt! Er funktioniert organisch" meinte Michael Wiederstein, der Ally Klein eingeladen hatte. Dagegen fand Hubert Winkels den Text "in der Durchführung ein bisschen öde": "Es ist ein vollkommen unterdeterminierter, unterkomplexer Text. Wir können uns da alles reindenken." Insa Wilke ortete viele falsche Bilder und Ungenauigkeiten.

Tanja Maljartschuk

Tanja Maljartschuk
Tanja Maljartschuk © APA/GERT EGGENBERGER

Den Vormittag beschloss die seit 2011 in Wien lebende Ukrainerin Tanja Maljartschuk, die seit 2014 auch in deutscher Sprache schreibt. In ihrem Text "Frösche im Meer" geht es um den Migranten und Hilfsarbeiter Petro, der sich mit einer dementen alten Frau anfreundet, die er im "Froschpark" einmal kennengelernt hat und eines Tages vermisst. Er sucht sie auf, kümmert sich um sie und wird von Frau Grill für ihren Ehemann gehalten. Sein letzter Besuch verläuft allerdings ganz anders als erwartet, als schließlich die Polizei auftaucht. Petro hat jedoch keine Papiere.

"Gut gemacht. Wir sind erleichtert. Endlich Literatur.", eröffnete Nora Gomringer die Jurydiskussion. "Eine ganz einfache Geschichte, die aber sehr kompliziert ist", meinte Insa Wilke. "Es geht um zwei Arten von Einsamkeit. Es ist ein abgründiger Text." Hildegard E. Keller ortete "eine Parabel über Randständigkeit, über Selbstauslöschung". Einen "vom Hintergrund sehr harter Text", ortete Klaus Kastberger: "Es ist nichts falsch an dieser Geschichte." Stefan Gmünder, der Maljartschuk eingeladen hatte, fand den Text "sehr schön und wahnsinnig gut gemacht. Sehr elegant. Super-Text!" Michael Wiederstein zeigte sich ebenfalls "ganz erleichtert, dass wir endlich eine richtige Geschichte haben". Kleine Einwände gab es gegen das Ende, das zum Teil als aufgesetzt empfunden wurde.

Bov Bjerg

Bov Bjerg
Bov Bjerg © APA/GERT EGGENBERGER

Der deutsche Autor Bov Bjerg eröffnete mit seinem Text "Serpentinen" den Nachmittag des zweiten Lesetages bei den 42. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt und darf sich für die Preisverleihung am Sonntag durchaus Chancen ausrechnen.

"Um was geht es?", lautet der leitmotivische Stehsatz von Bjergs Vater-Sohn-Geschichte, die gleichzeitig ein Road-Story ist, aber auch in die von Selbstmorden geprägte Familiengeschichte und in den Untergrund führt - von Fossilien ist ebenso die Rede wie von Tunnels und Höhlen. "'Um was geht es?', fragte der Junge. Ich antwortete: 'Es geht um die Serpentinen. Möglichst spät bremsen, runterschalten, in der Kurve Gas geben.'" Es ginge vor allem um die suizidäre Genealogie, die der Vater dem Sohn verheimliche, fand die Jury.

"Ein spektakulär unspektakulärer Text", fand Insa Wilke, die den Text gerade deshalb spektakulär fand. "Das ist für mich ein radikal erzählter Text", lobte Hildegard E. Keller. "Er hat eine Oberflächenkommunikation zwischen Vater und Sohn. Auf der anderen Seite hat er eine innere Kommentarfunktion. Da gibt es eine raffinierte Spannung. Sehr raffiniert!" - "Die Wurzeln gehen tief, sie gehen in die Erdgeschichte, aber auch in die deutsche Nachkriegszeit", fand Klaus Kastberger. "Es ist ein wahnsinnig konziser Faden, an dem sich dieser Text abarbeitet." Stefan Gmünder bekannte, der Text sei ihm "sehr nahe gegangen. Ein schöner Text!" Auch Nora Gomringer fand das "einen ausgezeichneten Text". Hubert Winkels gab zu: "Die ganze Geschichte ist gut und schnell erzählt. Das alles ist gut gemacht, aber mir ist es motivlich zu dicht."

Anselm Neft

Anselm Neft
Anselm Neft © APA/GERT EGGENBERGER

"Mach's wie Miltos!" riet der letzte Autor des heutigen Tages, der Deutsche Anselm Neft, in seinem Text. Erzähler ist ein stark dem Alkohol zusprechender Obdachloser, der mit seinem Hund Lucy ("Lucy ist nicht in erster Linie Hund. Sie ist in erster Linie Lucy.") umherstreift und mit seiner Familie gebrochen hat. Aber: "Für einen Wandersmann ist zu wenig Platz. Es gibt schon genug Probleme. Und andere Gesetze gibt es auch. Die neue Regierung ist jetzt mehr fürs Volk und weniger für ihn." Lucy wird überfahren und der Outcast greift zum Schnaps: "Eine Gin-Gin-Situation."

Hubert Winkels sah ein Stationendrama mit imaginären Schauplätzen und zeigte sich "verstimmt über die Massivität der Mittel, mit der mir das Mitleid abgepresst werden soll". "Ich finde den Text sehr überfrachtet", meinte Insa Wilke, während Klaus Kastberger fand, dass der Text ein lockereres Ambiente gut vertragen hätte: "Auf einer anderen Bühne würde der Text besser wirken." Heftig und durchaus divers wurde die Frage diskutiert, ob der titelgebende Miltos eine eingebildete oder eine reale Figur sei. Nora Gomringer, die Neft eingeladen hatte, fand gleich "zwei Hinweise darauf, dass Miltos kein Hirngespinst ist". Und Hildegard F. Keller hatte mindestens zwei Fragen an Text und Autor: "Ist das jetzt ein Schizophrener? Hat er seine Familie umgebracht?"

So geht es weiter

Am Samstag komplettieren schließlich der Deutsche Jakob Nolte (10 Uhr), sein Landsmann Stephan Groetzner (11 Uhr) und die in Solingen geborene und von den Veranstaltern als Türkin geführte Autorin Özlem Özgül Dündar (12.30 Uhr) das Feld der 14 Lesenden, das vom Deutschen Lennardt Loß um 13.30 Uhr abgeschlossen wird.