Resümee

Ein kurzes Resümee zum ersten Tag: Viel Apokalypse, eine diskutierfreudige Jury, die schon beim ersten Text aufeinander prallte. Und mit John Wray einen ersten Favoriten, bei dem man angesichts der Diskussion das surreale Gefühl bekam: Er ist zu gut für den Bachmann-Preis, denn dieser "Profi" hat "Klagenfurt nicht notwendig" (Klaus Kastberger). Dem widerspricht Wray übrigens im Interview: "Wenn ich hier verrissen worden wäre, hätte ich wahrscheinlich lange nicht mehr den Mut gefunden, auf Deutsch zu schreiben. Insofern hatte ich Klagenfurt schon nötig."

Morgen geht es weiter

Morgen geht es um 10 Uhr weiter. Am morgigen zweiten Wettbewerbs-Tag treten Ferdinand Schmalz, Barbi Markovic, Verena Dürr, Jackie Thomae und Jörg-Uwe Albig in Klagenfurt an. Wer heute noch nichts vorhat: Im Lendhafen gibt´s am Abend "Ein Lied mehr" mit Commander Venus und das a.c.m.e.-DJ Team. Und dann gibt es heute natürlich auch den traditionellen Bürgermeister-Empfang im Loretto.

Daniel Goetsch

Und nun der letzte des heutigen Lesetages: Der Schweizer Daniel Goetsch ist zum zweiten Mal Gast beim Bachmann-Preis. Der Züricher hat Rechtswissenschaften studiert und mehrere Bücher veröffentlicht. Eingeladen wurde er von Hildegard E. Keller. Zum Videoporträt des Autors geht es hier. Und hier zum Text.

Daniel Goetsch
Daniel Goetsch © APA/GERT EGGENBERGER

In seinem Romanauszug "Der Name" erzählt er von Quintin und Paula, Sommer 1946. Nachkriegsdeutschland. Paula lügt, und zwar für ihren Vater.  Ein Mann, vom Ich-Erzähler, verhört, geprüft, empfohlen. Eine Fehlentscheidung, getroffen in Wiesbaden. Jemand eignet sich die Geschichte eines anderen an. Ein Wegloben "Der Krieg hat alles verworfen. Zurückgeblieben sind krümelige Schicksale."

Klaus Kastberger tut sich schwer, das adäquat zu beurteilen, weil es "nur ein Teil ist und so viele Teile fehlen". Er hat ebenso wie Hubert Winkles John Wray im Hinterkopf, "aber ein bisschen von dessen Verdichtungskunst hätte ich mir gewünscht". Für Hildegard Keller ist das Scharnier des Textes das "Versagen". Hubert Winkels sah "eine Identitäts-Auflösungs-Geschichte", die jedoch "zusammencollagiert zu sein scheint" aus verschiedenen Elementen des Romans. "Viel zu konventionell erzählt", befand Sandra Kegel, "viele stilistische Mängel" sah Meike Feßmann. Einzig in Michael Wiederstein und Einladerin Hildegard Keller fand der Text Anhänger. 

Noemi Schneider

Noemi Schneider wurde in München geboren und lebt dort und im Allgäu. Sie liest auf Einladung von Hubert Winkels. Das Videoporträt der Autorin finden Sie hier. Und zum Text, der übrigens den Titel "Fifty Shades of Grey" trägt, geht es hier. Das Abendland kurz vor dem Untergang. Die "Du"-Erzählerin (gibt´s das eigentlich) und eine Baronesse machen sich auf eine letzte Reise auf, zwei freche junge Frauen auf dem Weg nach Barcelona, nach Gibraltar. Und Gott mischt auch noch mit.

Noemi Schneider
Noemi Schneider © APA/GERT EGGENBERGER

Meike Feßmann sieht zwei Freundinnen auf Urlaubsreise in Spanien, die shoppen und "etwas alberne Gespräche führen". Der Text hat ihr nicht gefallen. Sandra Kegel findet, der Text erzählt vom "Untergang des Abendlandes" und die "umgekehrte Flüchtlingsroute". Im Gegensatz zu Feßmann findet sie den "sprachlichen Clash" interessant. Hubert Winkels sieht ebenfalls den "Untergang des Abendlandes", eine "sehr lässige Atmosphäre", der "Zynismus der wahren Welt ist präsent und mittendrin findet man diese Malina, die sich umgebracht hat." Michael Wiederstein findet, es geht um die "europäische Dekadenz", um "Wohlstandsverwahrlosung", aber dem "Thema der Flüchtlingskrise auch unangemessen. Und Hildegard Keller meint, "lässig erzählt". Klaus Kastberger glaubt der Interpretation von Hubert Winkels zehn mal mehr als dem Text selbst. Hildegard Keller hat ihr immerhin "Gray Nr. 8" geglaubt.

Und nun gibt´s eine Pause.

Um 13.30 Uhr geht´s mit der Münchnerin Naomi Schneider weiter. Übrigens gab es interessante Diskussionen in der Pause: Gibt es erstmals einen Autor, der zu gut für Klagenfurt ist. Zu sehr Profi. Zu bekannt? Das wird spannend zu sehen sein.

John Wray

John Wray erzählt in seinem Porträt tatsächlich aus seinem Leben: Er ist in Buffalo aufgewachsen, seine Mutter stammt aus Friesach. Schon mit seinem Debüt "Die rechte Hand des Schlafes" katapultierte ihn in die erste Liga der jungen US-Autoren. Zuletzt sorgte er mit seinem Roman "Das Geheimnis der verlorenen Zeit" international für Aufsehen. Nun liest er aus seinem ersten Text, den er jemals auf Deutsch gelesen hat. John Wray wurde von Sandra Kegel eingeladen. Zum Text geht es hier.

John Wray
John Wray © APA/GERT EGGENBERGER

Der Text erzählt von einem Geschwisterpaar, beide Schriftsteller, die Beziehung ist schwierig. Im Mittelpunkt steht Maddy, die über einen Roman nachdenkt, den sie wohl nie schreiben wird. Den sie aber auch schon ziemlich genau im Kopf hat. Es würde um Madrigal gehen, die einen "geradezu schmerzhaft romantischen Ort", ein "längliches graues Etwas" entdeckt, das einen Gefährten bekommt. Im Internet wird sie fündig, bei "Rothalstaucher im Brutgefieder". Ein weiterer Text taucht im Text auf: Der Ornithologe Weisshaupt hat von seinen Erlebnissen bei den Bosavi. Dann ein Leiter, eine totalitäre Figur. Und so greift Text in Text, bis auf einmal wieder Bruder und Schwester da sind. Interessant, vor allem wohl auch, weil John Wray ausgezeichnet liest.

Hubert Winkels ist "schwer beeindruckt von diesem Text", in dem eine Frau wieder eine Geschichte schreiben kann, nachdem sie wohl eine zeitlang nicht geschrieben hat. Das ist von einer "Kunstfertigkeit sondergleichen". Die "Schleife hat auch mich beeindruckt", so Stefan Gmünder, der auch dankbar für den "Humor" im Text ist. Klaus Kastberger hatte ebenfalls großen Spaß daran, einem "Profi bei der Arbeit zuzusehen", von dem nicht nur die Autoren, sondern auch die Juroren noch etwas lernen können. Der Text sei "brillant". Hildegard Keller findet es einen "cleveren Trick" über Vögel zu schreiben, denn dann "heben die Juroren ab". Ihr gefallen auch die "gut verdaulichen Brocken", was ja gerade Amerikaner gut können würden. Sie erkennt auch "mit Respekt, dass es eine Studie ist, ein Erzählbausatz, der für 10 Seiten ebenso wie für 100 Seiten angewendet werden kann". Sie wird allerdings nicht ganz warm mit der Geschichte, die "Spielsucht" ist ihr zu beliebig, es ist zu "Messie" für sie. Sandra Kegel hat ihn eingeladen, sie hat John Wray sogar aktiv angesprochen, ob er mitmachen würde. Umso mehr freut sie die positive Resonanz auf den Text. Meike Feßmann sieht "großes Handwerk" und einen Autor, der alles, was er zu bieten hat, in dieses Format packen kann. Gleichzeitig aber hatte sie das Gefühl, da fährt jemand mit dem "Mähdrescher durch die Kleingartensiedlung". Der Text sei "maßlos perfekt". Michael Wiederstein stört die "Überfrachtung".

Gestrige Eröffnung

An dieser Stelle sei nochmals an die gestrige Eröffnung verwiesen, bei der Franzobel in seiner "Klagenfurter Rede" die Macht der Literatur beschworen hat und ihre Wichtigkeit als "Seelenfutter"

Björn Treber

Weiter geht es mit dem Kärntner Björn Treber. Obwohl er als dreifacher österreichischer Jugendstaatsmeister im Tennis viel Wettkampferfahrung hat, gestand er vor der Lesung, doch "nervös" zu sein - zu seiner eigenen Überraschung. Treber ist mit seiner Familie angereist, die ihm den Rücken stärken wird. Er liest aus einem "Riesenprojekt", in dem es um den Tod des Großvaters gehen wird. Treber hat bisher "nur" in den "manuskripten" veröffentlicht. Zum Videoporträt geht es hier (wobei es bei diesem Porträt keinen Text gibt).

Björn Treber
Björn Treber © APA/GERT EGGENBERGER

Der Text handelt wie angekündigt vom Begräbnis des Großvaters.8 Man könnte also sagen: Ein Auftakt mit Apokalypse und Begräbnis, durchaus "österreichisch". Zum Text geht es übrigens hier. Der Großvater wird jedenfalls auf dem Annabichler Friedhof begraben. Freunde des Großvaters werden begrüßt, biografische Daten verlesen, Totengräber kommen heran, Erde fällt auf den Sarg. Diese Jurydiskussion wird interessant.

Und los geht´s: Hildegard Keller hat "selten so eine präzise Beschreibung" gelesen und freut sich über den "frischen Blick". Sandra Kegel dagegen findet den Text in der Bildererzeugung "zu schwach". Michael Wiederstein findet, dass in der Erzählung gar nicht viel Trauer zum Ausdruck kommt, der Text hat eine "Adjektivitis".

Meike Feßmann dagegen sieht hier eine tiefe Trauer - spannend, wie man so unterschiedlicher Meinung sein kann. Ebenfalls etwas, das das Wettlesen so spannend macht. Hubert Winkels meint, dass der Text "auch auf einer ganz banalen Ebene nicht funktioniert". Und Klaus Kastberger hatte das Gefühl, dass der Text ein "wahnsinnig großes Risiko" nimmt, der Text ist in jedem Teil real und verarbeitet "Intimität 1:1". Hildegard Keller möchte trotzdem noch einmal eine "Lanze für den Text als Text brechen", sie hält ihn für "sehr präzise" und ein "sicheres Abschreiten der Szenerie". Klaus Kastberger findet dann auch, dass der Text "nicht so grottenschlecht" ist und er findet "interessante Brechungen" der Tonlage des Textes. Moderator Christian Ankowitsch fasst zusammen: "Ein Text, der ein enormes Risiko nimmt."

Wiener Innenstadt auf Roter Liste

Ironie am Rande: Gerade ist Wien von der Unesco auf die Rote Liste gesetzt worden. Damit ist die Wiener Innenstadt auf die Liste der gefährdeten Welterbestätten die Apokalypse ist also schon da :-)

Karin Peschka

Die Oberösterreicherin geht als erste ins Rennen. Sie wurde 1967 in Linz geboren, hat unter anderem für ihren Roman "Watschenmann" viel Lob bekommen und liest auf Einladung von Stefan Gmünder.

Zum Videoporträt geht es hier. Und zum Text geht es hier.

Karin Peschka
Karin Peschka © APA/HELMUT FOHRINGER

Sie liest den ersten Teil der Erzählung "Wiener Kindl" und ist, wie sie am Anfang zugibt, etwas "nervös". Worum geht es im Text? Ein "Kindl" (kein Amazon-Produkt, sondern wohl ein etwas größeres Kind), das die Zerstörung Wiens überlebt. Und viele Hunde, die ebenso überleben und sich bald eine Rangordnung zulegen. Auch das Kind gehört bald zum "Rudel". Apokalypse trifft Mogli? Die Windel legt das Kindl jedenfalls sofort ab. Dafür sitzt es bald unter einem Feigenbaum und schlägt die Klangschale.

Die Jurydiskussion eröffnet Hubert Winkels, der sich freut, dass zur Eröffnung eine "klar umrissene Geschichte erzählt wird". Die Erzählerstimme würde sich stark dem Kind annähern, das apokalyptische Bild würde "fest und unverrückbar" da stehen. Das sei auch das Kernproblem: Man habe das Bild und dem werde wenig hinzugefügt. Sandra Kegel sieht den "Witz der Geschichte" darin, dass "die Gesellschaft vor die Hunde geht" (wortwörtlich) und dass das schwächste Glied der Familie überlebt. Das Kind sei in der alten Welt ein Opfer einer verzerrten Aggression gewesen, erst in der Apokalypse kann es sich eine Selbstermächtigung erkämpfen. Die Geschichte sei "Mogli im Wiener Dschungel".

Auch Meiße Feßmann sieht dieses Bild eines ausgesetzten Kindes, nur hier seien die Hunde noch verwöhnter als das Kind. Das seien "ironische Schlenker", die ihr gefallen. Das Setting sei schlicht gewählt, aber insgesamt sei es interessant. Klaus Kastberger erinnert daran, dass die Apokalypse ein wichtiges Element der österreichischen Literatur ist und bevorzugt Wien untergehen darf. Stefan Gmünder findet naturgemäß - er hat die Autorin nominiert - einen "großen Text".

Michael Wiederstein fehlt die erzählerische Reduktion, aber das Kind mit dem silbernen Löffel, das wird "hängen bleiben". Überhaupt: Es wird schon angeregt diskutiert. Offensichtlich hat der Text sofort die Redelust der Juroren angeregt. Sehr fein - so wollen wir das ja in Klagenfurt.

Neuer Juror

Bekanntlich gibt es heuer mit Michael Wiederstein einen neuen Juror. Ein Interview mit ihm lesen Sie hier.

Michael Wiederstein
Michael Wiederstein © Schwiertz

Der 1. Lesetag startet

Heute startet das Wettlesen um den mit 25.000 Euro dotierten Bachmann-Preis. Los geht es mit drei Österreichern: Karin Peschka, danach kommt Björn Treber und um 12 Uhr schließlich John Wray. Ein spannender Vormittag also - der Garten und das ORF-Theater sind auch schon gut gefüllt.