Erika Freeman wurde 1927 als Erika Polesiuk in Wien geboren, wuchs in einer jüdischen Familie auf, ihre Mutter war die Vorlage für Isaac B. Singers „Yentl“, dargestellt von Barbra Streisand im gleichnamigen oscarprämierten Film. Mit 12 musste Erika allein nach New York fliehen, sie wuchs in einem Waisenhaus auf. Sie lernte, lernte, lernte, machte ihren Doktor in Psychologie und wurde Psychoanalytikerin. Ihre Patientinnen und Patienten kamen aus New York, sehr viele aber auch aus Hollywood. Mit über 90 Jahren kam sie zurück nach Wien. Mittlerweile wohnt sie ständig im Hotel Imperial, wo einst Hitler nächtigte.

Wie konnten Sie so ein Massel haben, ein Buch über Erika Freeman schreiben zu dürfen? Bitte assoziieren Sie frei!
DIRK STERMANN: Theoretisch kann man ja immer Massel haben, aber man muss es schon auch merken, dass da etwas lauern könnte. Ich denke, dass man optimistisch und mit ausgefahrenen Antennen unterwegs sein sollte, dann hat man immer wieder die Chance, etwas Besonderes zu erleben. Schlecht ist, wenn man sich sagt: Es ist eh alles gschissen, weil dann wird auch eher alles gschissen.
Was haben Sie von Erika Freeman gelernt?
Dass man auch schlechte Dinge, die einem passieren, transfomieren kann in etwas Gutes. Dass man sich nicht so niederdrücken lassen darf von den Schlechtigkeiten in der Welt.

Wie soll man das hinkriegen?
Ich glaube, dass man sich einreden kann, dass Dinge besser sind, als es den Anschein hat. Dann werden sie tendenziell auch besser. Ich bin da inzwischen ganz Erikas Meinung, dass man eher ein Ja sagen sollte als ein Nein.

Sie trafen sich immer mittwochs im Hotel Imperial?
Wir treffen uns dort immer noch. Erika ist eh ganz verwirrt, weil sie sagt, dass das Buch ja fertig ist.

1994 wurde das Imperial einmal zum besten Hotel der Welt gekürt: Erika Freeman wohnt seit Beginn der Pandemie dort. Will sie gar nicht mehr zurück nach New York?
Ich glaube nicht. Sie ist ganz happy in Wien. Ich habe sie gefragt, ob sie New York nicht vermisse, aber sie sagte, die meisten ihrer Freunde seien ohnehin tot. Und ihre Wohnung dort ist auch vollgeräumt mit der Kunst ihres verstorbenen Mannes. Ihr gehört auch ein Mietshaus in Wien, hat da selbst auch eine Wohnung, aber auch dort sind die Kunstwerke ihres verstorbenen Mannes drin.

Wer ist diese Frau?
Wesentlich ist, dass sie sich von Anfang an selbst durchgekämpft hat. Sie erwartet relativ wenig, hatte es schwer, aber sie hat für sich beschlossen: Ich mach’ mein Ding. Und sie ist sehr gescheit und das hilft auch.
Erika Freeman betont immer wieder, sie habe keine Angst.

Kann sie das jetzt nach dem Angriff der Hamas auf Israel auch noch sagen?
Sie hat tatsächlich weder Angst, noch einen Hass. Sie ist natürlich erschüttert, hat mit ihren Verwandten in Israel telefoniert. Aber sie erklärt immer, dass weder im Hass noch in der Rache irgendwas zu finden sei, das etwas besser machen würde. Sie versteht die Gewalt der Hamas nicht, sie versteht den wieder aufkeimenden Antisemitismus nicht. Eine Frage begleitet sie immer: „Warum werden wir Juden so gehasst, wir sind eh so wenig.“ Die Muslime haben Dutzende Länder und wir Juden haben ohnehin nur ein klitzekleines Land, sagt sie.

In Ihrem Buch kommt ein Zitat von Ralph Waldo Emerson vor: „Erfolg im Leben zu haben bedeutet, viel zu lachen, die Liebe von Kindern zu gewinnen, den Verrat falscher Freunde zu ertragen, die Welt zu einem ein klein wenig besseren Ort zu machen.“ Ist es das?
Letztlich ist es das. Jedes Leben soll die Welt verbessern. Erika geht davon aus, dass sie noch lebt, weil sie noch dazu beitragen muss, dass die Welt ein klein wenig schöner wird. Das ist ein bisschen wie eine Mission im humanistischen Sinne.


Die 96-jährige Erika Freeman arbeitet immer noch. Ihre Begründung: Warum soll sie jetzt nicht mehr arbeiten, wo sie heute doch mehr wisse als noch vor 20 Jahren? Eigentlich logisch, oder?
Ja, genau. Wenn einer nicht mehr will, ist es etwas anderes. Aber dass jemand mit 62 oder 65 zu arbeiten aufhört, obwohl er noch voll drauf ist, ist auch mir schleierhaft. Auch dass jemand gezwungen wird, aufzuhören mit der Arbeit, weil er das Pensionsalter erreicht hat, ist mir unverständlich.


Sie schreiben, dass Ihr Vater immer anerkennend von den Bauern am Niederrhein erzählte, die jedes Jahr bei Hochwasser wieder aufs Dach stiegen und sagten: „Da kannste nix machen.“
Mein Vater hat mir das so unter dem Motto gesagt: Nimm’ halt Dinge so an, wie sie sind. Und manchmal muss man eben aufs Dach und warten, bis das Wasser wieder sinkt.

Man könnte aber auch sagen, man zieht in eine andere Gegend.
Wäre auch eine Möglichkeit, aber so eine Grundhaltung, dass man Dinge, die nicht so laufen, auch einmal hinnehmen kann, finde ich gar nicht so schlecht. Nicht alles ist immer gleich eine Weltkatastrophe.

Sind Sie ein anderer, seit Sie Erika Freeman begegnet sind?
Kein anderer, aber sie bemüht sich sehr mir zu suggerieren, dass es gut ist, so wie ich bin. Es hat immer so eine Leichtigkeit mit ihr. Und ich kriege jeden Tag ein SMS von ihr mit einem Aphorismus. Das finde ich schön. Und es hat fast etwas Beschwörendes, wenn sie am Ende immer schreibt: ,,Bleib gesund, Erika“. Vielleicht bleibe ich dadurch wirklich gesünder.

Erzählen Sie bitte noch einen jüdischen Witz?
Ein Jude sitzt in einem Lokal und bestellt eine Suppe. Dann kommt die Suppe und er ruft den Kellner: „Kosten Sie die Suppe!“ Der Kellner sagt, „Was ist? Ist die Suppe kalt?“ - „Kosten Sie die Suppe!“ - „Ist Sie versalzen?“ - „Kosten Sie!“ Dann sagt der Kellner: „Okay. Aber Sie haben ja gar keinen Löffel.“ Ich mag den sehr.

Buchtipp: „Mir geht’s gut, wenn nicht heute, dann morgen“ (rowohlt), präsentiert Dirk Stermann am 15. Oktober ab 20 Uhr gemeinsam mit Erika Freeman im Rabenhof-Theater in Wien.