Auf dem Schreibtisch dieses Buch von ihm, ein Interviewband. Der Titel: „Ich würde heute ungern sterben“. Gestern war heute: Martin Walser, einer der bedeutendsten und letzten Großschriftsteller der deutschen Nachkriegsliteratur, ist im Alter von 96 Jahren gestorben. Er hat ein wahrlich „titanisches Werk“ hinterlassen, wie es Literaturkritiker Denis Scheck nennt.

„Die Sprache verwaltet das Nichts“, sagt Walser an einer Stelle dieses Interviewbandes, und natürlich schimmert da Franz Kafka durch, über den er seine Dissertation verfasste. Immer war die Sprache der Treibstoff, der ihn an- und umgetrieben hat. „Literatur ist Steigerung unseres Daseins“, noch so ein typischer Walser-Satz, der sein Dasein stets dem Diktum von Gabriel García Márquez unterworfen hat: „Leben, um darüber zu schreiben.“

Geboren wurde Martin Walser 1927 als Sohn eines Gastwirts im bayerischen Wasserburg. Schon als Zwölfjähriger soll er erste Gedichte verfasst haben, nach dem Weltkrieg studierte er Literaturwissenschaft, war später Mitglied der „Gruppe 47“. Seinen ersten Erzählband „Ein Flugzeug über dem Haus“ veröffentlichte er 1955, den ersten Roman „Ehen in Philippsburg“ 1957. Sogar zum Bestseller geriet ihm die Ehe-Moritat „Ein fliehendes Pferd“. Mit der Trilogie „Halbzeit“, „Das Einhorn“ und „Sturz“ und der Hauptfigur Anselm Kristlein schuf er bereits in den 60er-Jahren den Prototypen des verunsicherten, taumelnden Mannes.


Martin Walser war ein wortmächtiger Widerborst, zwei „Skandale“ kleben an seinem Namen. Sein Roman „Tod eines Kritikers“, der unschwer als Abrechnung mit dem verstorbenen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki gelesen werden konnte, entfachte eine heftige Debatte. Und in einer Rede in der Frankfurter Paulskirche sprach er davon, dass sich Auschwitz nicht dafür eigene, Drohroutine zu werden – auch darüber ließ sich trefflich und wild streiten.

Zwei Dutzend Romane umfasst das Walser’sche Opus, zahlreiche Novellen, Theaterstücke, Reden, Aufsätze. Und immer ging es diesem Autor um alles. Das Politische war ebenso drängend wie das Private; die Schieflage der Nation ebenso dringlich wie die Schräglage des Einzelnen. Das „Wir“ ebenso raumgreifend wie das „Ich“. Überhaupt: Das Ich. Walser war bekennender Egomane – und Erotomane. Nur ganz zuletzt, als die Bücher immer schmäler wurden und die Kraft allmählich nachließ, glich sein (Auf-)Begehren einem verzweifelten Altersächzen.

Martin Walser hatte einen unverwechselbaren „Sound“, seine Worte waren Musik, seine Sätze mäandrierten, waren uferlos, aber nicht ohne Halt und schon gar nicht ohne Haltung. Dass es zu Ende geht, machte ihn unwirsch, aber nicht sprachlos. Seiner Novelle „Mein Jenseits“ hat er Sätze des Philosophen Jakob Böhme voranstellt: „Wer es verstehen kann, der verstehe es. Wer aber nicht, der lasse es ungelästert und ungetadelt. Dem habe ich nichts geschrieben. Ich habe für mich geschrieben.“ Und somit für uns, die wir mit Martin Walser einen wehr- und wahrhaften Verwalter des Nichts verloren haben.

Buchtipps

Mit „Halbzeit“ eröffnete Walser 1960 seine Anselm-Kristlein-Trilogie – Kernstück seines Werkes. „Ein fliehendes Pferd“, Novelle aus dem Jahr 1978, ist ein Beziehungsdrama, das am tosenden Bodensee gipfelt.
„Der springende Brunnen“ (1998) ist ein autobiografischer Roman, in dem Walser Kindheit und NS-Zeit thematisiert. Alle Bücher Suhrkamp-Verlag.