Elf Romane und nur eine Erzählung, die jetzt erstmals auf Deutsch erschienen ist, hat die ikonische US-Autorin und Nobelpreisträgerin 1993 Toni Morrison (1931–2019) hinterlassen. "Ein Experiment" hat sie diesen kurzen Text aus 1983 mit dem Titel "Rezitativ" genannt.

Die Geschichte: Zwei Mädchen, acht Jahre alt, landen in einem Kinderheim und freunden sich an. Twyla heißt das eine Mädchen, Roberta das andere. Nur wenige Monate verbringen die beiden dort, dann verlieren sie einander aus den Augen. Doch später kreuzen sich die Wege immer wieder. Im Restaurant, im Supermarkt, bei der Schuldemonstration, wo es um "schwarze und weiße Schüler" geht. Die beiden Frauen erinnern sich an die Zeit im Heim zurück, doch die Rückblenden von Twyla und Roberta decken sich nicht und auch eine eigenartige Reserviertheit liegt in der Luft. So sehr sie als junge Mädchen verbunden waren, so tief sind die Gräben, die die beiden Frauen und Mütter trennen.

Das "Experiment" von Morrison besteht darin, dass die Leserin, der Leser zwar von Beginn an weiß, dass ein Mädchen schwarz ist und das andere weiß. Doch welche ist welche? Morrison schrieb dazu in einem Essay, dass es ihre explizite Absicht gewesen sei, "in einer Erzählung mit einer schwarzen und einer weißen Figur, für die ihre mit ihrer Rasse verbundene Identität von grundlegender Bedeutung ist, alle rassifizierenden Codes zu entfernen".

Im Fangnetz der Stereotype

Das Spannende: Das Versuchskaninchen in diesem Experiment ist natürlich das Lesepublikum. Als Lesender ertappt man sich bei der Lektüre dieses ebenso raffinierten wie entlarvenden Textes immer wieder dabei, unbedingt wissen zu wollen, wer wer ist. Wer ist schwarz, wer weiß? Man sucht "Typisches" und "Charakteristisches", bestimmte "Verhaltensmuster" oder besser: Stereotype. Wie sind die Mädchen/Frauen gekleidet, wo wohnen sie, was essen sie, wie reden sie? Aber: Warum ist es eigentlich so wichtig, zu erfahren, wer welche Hautfarbe hat?

In ihrem profunden, ausführlichen Nachwort schreibt die britische Autorin Zadie Smith: "Das, was an Twyla und Roberta wesenhaft schwarz oder weiß ist, bringen wir selbst in dieses Buch ein – im Rahmen eines Zeichensystems, an dem sich bereits viel zu viele Menschen über viele Hundert Jahre hinweg gemeinschaftlich abgearbeitet haben." Und noch einen wichtigen Aspekt streicht Smith hervor. Morrison, selbst direkte Nachfahrin versklavter Menschen, gehe es in ihren Büchern stets um Selbstachtung und das Menschliche, "das Beharren darauf, ein Jemand zu sein, auch wenn die Strukturen, in denen man sein Leben verbringt, einen als einen Niemand kategorisiert haben".

"Rezitativ" ist mehr als ein Buch. Ein großartiges, hinterlistiges Lese-Experiment, bei dem man viel über sich selbst erfährt. Einiges davon könnte uns nicht gefallen.

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Buchtipp: Toni Morrison. Rezitativ. Rowohlt, 92 Seiten, 20,60 Euro.