Es ist kein vorrevolutionärer Konflikt der Stände, den dieser „Figaro“ erzählt. Es ist kein Ächzen im Gebälk des Ancien Régime zu hören. Das vordergründig Politische weicht Barrie Koskys exakter Analyse eines Beziehungsgeflechts, in dem eher die Macht der Erotik die Hierarchien durcheinanderbringt. Das leichtfertige Spiel schlägt schnell in bitteren Ernst um: Häusliche Gewalt, Zwänge und Unterdrückung, Einsamkeit und Verlorenheit, das alles ist den Personen im gräflichen Haushalt Almaviva nicht fremd. Die Getriebenheit des Almaviva hat destruktive Züge. Andrè Schuen verleiht diesem kleinen Bruder Don Giovannis ein gefährlich viriles Gepräge, dies ist ein Charmeur mit von dunklem Samt umhüllten Stimmbändern und zugleich ein unguter Heißsporn.

Solche Abgründe sind jedoch subtil in eine kontrastreich temperierte Komödie eingearbeitet, bei der nicht nur die Komik im Detail steckt. Die minutiöse Personenregie und die vielen, für sich allein genommenen banalen Gags ergeben in Summe eine mitreißende Lebendigkeit und packenden Naturalismus. Kosky zeigt, was Opernregie auch sein kann: großartiges Handwerk. Und er demonstriert es an dem besten dafür geeigneten Stück: „Die Hochzeit des Figaro“ ist das theatralischste Stück Mozarts, in dem die Musik sozusagen zu Theater verwandelt ist. Wer hier reines, (scheinbar) einfaches Theater macht, lässt die Musik und die in ihr wohnenden Figuren zu ihrem Recht kommen.

Wunderbar eng verzahnt ist die Komödie mit dem Orchestergraben, wo Philippe Jordan und das Staatsopernorchester eine Meisterleistung vollbringen. Einen so unaufgeregten, doch spannenden „Figaro“ hört man selten: Jordan gestaltet die Temporelationen und die Dynamik ideal, alles ist transparent, die beiden Finali sind voller Farben, Temperament und Schönheit. Und nichts wirkt gewollt oder gezwungen. Der berühmte Wermutstropfen ist beim „Figaro“ immer derselbe – die ärgerlichen Striche im vierten Akt.

Weil Ying Fang am Tag der Premiere eine Stimmbandblutung erlitt, spielte sie die Susanna nur (brillant), und rettet mit der aus dem Orchestergraben singenden Maria Nazarova den Abend. Peter Kellner gibt einen sympathisch-jungen, leichtgewichtigen Figaro, während Patrica Nolz dem Cherubino Kraft verleiht. Hanna-Elisabeth Müller lässt als Gräfin betörende Töne hören, spätestens im zweiten Teil von „Dove sono“ lotet sie auch die Tiefen der Figur aus. Sie und Schuen setzen die sängerischen Glanzlichter in einem bis hinunter zum Basilio Stefan Cernys sehr guten, homogenen, jugendlich-frischem Ensemble. Exquisit: der Chor. Ein großartiger Abend, und doch hat die Inszenierung ihre Tücken. Wenn sie nicht absolut minutiös geprobt wird, droht sie zu einem Nichts zusammenzufallen.