„Ich singe für die Alten und die Kinder.
Ich sing' für jede Frau und jeden Mann.
Die unbemerkt von allen aufstehen, wenn sie fallen.
Und jeden, der das nicht alleine kann.“  

Selbst nach diesem Zitat (siehe Einordnung unten) und einem finalen Blick auf die Liste findet sich noch immer nicht die umfassende Klammer für das abgelaufene Musikjahr – das war aber wahrscheinlich eh nicht der Sinn & Zweck der Aufgabe … und selbst wenn dann Mira Lu Kovac 2022 auch noch den STS-Song „Kalt und kälter“ covert, schafft sie es trotzdem nicht in meine Auswahl. Sie liefert jedoch eindeutig den Beleg dafür, dass viele von uns kein Normalo-Jahr erlebt haben.

Deshalb geht es in meinem Definitiven Dutzend zumindest um eine ordentliche Portion HERZ (Heartbreaker, Hearts Aglow, Heartbursts …) und damit liegt man ja bekanntlich jedenfalls & jederzeit auf der richtigen Seite. Beim Bonus Cut auf Position 13 musste ich übrigens meinem Herzen einen ordentlichen Stoß geben – hab ich doch eine Grundskepsis bei Songs in Überlänge. Hiermit hab ich gleich den wesentlichen Ansatz fürs 23er-Jahr geliefert: alte Gewohnheiten brechen und mit Anlauf rein ins Neue! 

Mitski - Heartbreaker 

Was für ein Sad Dance Banger! Der Song belegt, wie selbstverständlich und erfolgreich die US-Japanerin zwischenzeitig Gitarren gegen Elektronik getauscht hat. Kein Wunder, dass sie den Opener auf der Harry-Styles-Tour gibt und ihre Stücke auf TikTok durchstarten.

SZA - Kill Bill

Die Künstlerin mit dem bürgerlichen Namen Solana Rowe nennt sich inspiriert vom Wu-Tang Clan „SZA“. Das Album-Cover mit dem ins Nichts ragenden Steg ist eine Referenz an ein Fotomotiv mit Lady Diana aus 1997. Der Songtitel spielt Doppelpass mit Tarantino und die Lyrics sind diesbezüglich einschlägig stimmig. Hier wird nichts dem Zufall überlassen. 

Weyes Blood - Hearts Aglow 


Die Singer-Songwriterin ist in den Staaten längst ein Star und blieb mit ihrem 5. Album trotzdem dem legendären Indie-Label Sub Pop (Seattle, Nirvana …) treu. Ihre aktuelle Kollaboration mit John Cale zeigt zusätzlich, dass sie die Wirkung der großen & kleinen Symbole drauf hat. Mein Herz glüht. 

Jens Friebe - First We Take Manhattan


Der gute Mann nimmt Risiko. Den Leonard-Cohen-Klassiker einfach einzudeutschen, muss man sich erst einmal trauen. Männer mit Blumen im Haar schrecken offensichtlich vor nichts zurück. Laut deutschem Feuilleton liefert er mit seinem Album „Gegengift für unsere Zeit der Widersprüche“. 

Jon Spencer - My Hit Parade


Nach 25 Jahren Ganzkörpereinsatz mit seiner Jon Spencer Blues Explosion zeigt der Meister der wüsten Gitarrenriffs keine Anzeichen von Amtsmüdigkeit. Attacke! 

Jochen Distelmeyer - Ich sing für Dich 


Von ihm und aus diesem Lied stammt das Zitat zum Einstieg in den Text. Über ein Jahrzehnt Funkstille und dann gibt es GEFÜHLTE WAHRHEITEN. Alternative Fakten?
Damit kein Irrtum aufkommt, weiter im Text:

„Ich sing' für dich wenn du nicht weißt wo deine Leute sind.
Rings um dich nur Krieg und Krise, Tod.
Und auch auf deine Welt ein harter Regen fällt.
Und du nicht weißt wo deine Liebe wohnt.“

Lucius - Heartbursts 


Holly Laessig (die heißt wirklich so) und Jess Wolfe haben die sprichwörtlichen Engelsstimmen im Repertoire, weshalb sie von War on Drugs, Jeff Tweedy & Co immer wieder für die Background Vocals gebucht werden. 
Dazwischen geben sie seit etlichen Saisonen ein Fake Zwillingspaar, das beim aktuellen Album Disco und Melancholie perfekt kombiniert. 

Pusha T - Dreaming Of The Past 


Bei dem Herrn muss man nach Maßgabe die Texte ausblenden und sich ganz auf Kopfnicken konzentrieren. Der gewählte Track ist wunderbarer Oldschool-Hip-Hop, dem Produzent Kayne West außerdem ein geniales John-Lennon-Sample verpasst hat.

Danger Mouse & Black Thought - No Gold Teeth 


Am anderen Ende der Ernsthaftigkeitsskala befinden sich diese beiden Akteure. Brian Burton (Danger Mouse, eine Hälfte von Gnarls Barkley) und Black Thought (The Roots) repräsentieren kein Genre, passen in keine Ära und folgen keinem Trend. Hier darf man sich den schwindelerregend schnellen Lyrics getrost widmen. 

Royel Otis - Oysters In My Pocket 


Die Welt braucht regelmäßig neuen/alten Garagenpop und Gott sei Dank gibt es in dieser Kategorie Jahr für Jahr Nachschub aus Australien. Ein sonniges Duo aus Sydney, das auf unkomplizierte Drei-Minuten-Songs setzt. 

Kevin Devine - How Can I Help You? 


Es war ein weiter Weg von den Emo-Anfängen seiner ersten Band Miracle of 86, über die Folkalben der letzten Jahre bis hin zur vorliegenden Sound-Üppigkeit. Der ausgewählte Songtitel transportiert die Motivation des Künstlers: für Leute, die es schwer haben – von einem, der es schwer hat. Wahrscheinlich mit ein Grund, dass auch er sich Blumen ins Haar steckt. 

Sofie Royer - Baker Miller Pink 


Waviges Pop-Zauberstück aus der Feder der in Kalifornien geborenen Austro-Iranerin, in dem man ihre Vorliebe für Brian Wilson spürt. Den besungenen speziellen Rosa-Farbton gibt es tatsächlich und er wird bei Häftlingen gezielt eingesetzt, um gewalttätige Impulse zu reduzieren.

Bonus Cut: The Dawes - Someone Else‘s Cafe 


Unglaublich lang, unglaublich – ich erlebe in dieser von Jonathan Wilson produzierten Wundertüte wenigstens drei Songs und ordne das Gitarrensolo knapp nach Minute zwei unbewiesener Weise dem legendären Mark Knopfler (Dire Straits) zu.