Am 29. April 1942 fuhr der Zug des faschistischen Diktators Benito Mussolini in den Salzburger Bahnhof ein, der zuvor mit italienischen und deutschen Flaggen geschmückt worden war.“ Mit diesem fast bedächtigen Satz beginnt Wassili Grossmans epische Schilderung der Schlacht von Stalingrad, die im Februar 1943 mit einer traumatischen Niederlage Nazi-Deutschlands endete, schätzungsweise eine Million Opfer forderte und mehr als jede andere Schlacht des Zweiten Weltkrieges bis heute im kollektiven Gedächtnis verankert ist.

Der Roman „Stalingrad“ ist der erste Teil von Grossmans monumentalem Romanprojekt über den Deutsch-Sowjetischen Krieg, das mit „Leben und Schicksal“ (auf Deutsch veröffentlicht 2007) seine ebenfalls viel beachtete Fortsetzung fand.

In „Stalingrad“ entfaltet Grossman mit großer erzählerischer Kraft ein gewaltiges und naturgemäß gewalttätiges Panorama des Kampfes und der kriegsentscheidenden Schlacht. Und er wusste nur allzu genau, wovon er da schrieb. Wie Hunderte andere sowjetische Schriftsteller war Grossman Kriegsberichterstatter, und kein Einsatz prägte ihn so sehr wie jener in Stalingrad. „Seine Berichte machten ihn berühmt“, schreibt der Historiker Jochen Hellbeck in seinem profunden Vorwort. „Sie schilderten das Schlachtgeschehen aus der Sicht einfacher Soldaten, mit denen er lange Gespräche führte.“

Die Arbeit an seinem großen Stalingrad-Roman begann Grossman noch während des Zweiten Weltkrieges. Im Zuge des Schreibens und aufgrund dessen, was er in seiner russischen, von Stalin regierten Heimat erleben musste, bekam aber das kommunistische Weltbild Grossmans tiefe Risse. Seit Ende der 1940er-Jahre war die Sowjetunion immer wieder Schauplatz von antisemitischen Kampagnen und Übergriffen.

„Grossman begriff, dass seine Hoffnung auf eine moralische Erneuerung der sowjetischen Gesellschaft im Zuge der ungeheuerlichen Kriegsanstrengung trügerisch gewesen war“, so Hellbeck, „seine ursprüngliche Begeisterung über den vom Sowjetvolk und seiner Staatsführung gemeinsam geführten Freiheitskampf gegen faschistische Unterdrückung geriet zu einem individuellen Freiheitsbekenntnis in Opposition zum stalinistischen Regime.“

Durch Zensur entstellt

Dieser für Grossman schmerzhafte Gesinnungswechsel war auch der Hauptgrund für die buchstäblich abenteuerliche und dramatische Publikationsgeschichte des „Stalingrad“-Romans. Eine erste Veröffentlichung in Russland erfolgte bereits Anfang der 1950er-Jahre, ungefähr gleichzeitig kam das Buch unter dem Titel „Wende an der Wolga“ in der DDR auf den Markt.

Allerdings war der Text durch massive Eingriffe der sowjetischen Zensur fast bis zur Unkenntlichkeit verfälscht. Die extreme Vorsicht der Redakteure bzw. Lektoren hatte vor allem damit zu tun, dass der sowjetische Sieg in Stalingrad zum unantastbaren Legitimationsmythos für Stalins Herrschaft geworden war.

Die nun vorliegende deutsche Übersetzung geht auf die englische Fassung von Robert Chandler aus dem Jahr 2019 zurück, der den lädierten „Stalingrad“-Roman restaurierte wie ein beschädigtes Gemälde. Chandler griff dafür auf eine bislang unveröffentlichte Fassung Grossmans zurück und kombinierte diese mit der Buchausgabe von 1956. Die nunmehrige Übersetzung ins Deutsche erfolgte von Christiane Körner, Maria Rajer und Andreas Weihe. Das Resultat ist ein zeitlos gültiges Anti-Kriegsepos, das vielfach mit Tolstois „Krieg und Frieden“ verglichen wird.

© KK

Buchtipp. Wassili Grossman. Stalingrad. Claassen.
1275 Seiten, 36 Euro.