Wärmer und umfassender kann ein Händedruck kaum sein. Wenn die Frau, die hier eine lokale Berühmtheit ist, zum Gruß ausstreckt, bietet sie einen ihrer zwei breiten Finger samt Handmuskel als eine Art Boden an, auf den man seine Hand legen möge. Den anderen Finger legt sie dann zu einer umschließenden Bewegung, wie eine Muschel, obendrauf. „Fühlt es sich weich an?“, fragt sie und lächelt. Das tut es. Und man versteht sofort, wie diese Frau ihre Körperteile, die andere Menschen als Handicap sehen würden, zum Zentrum ihrer Kunst macht.

Da wäre ja nicht nur diese linke Hand, die aus bloß zwei Fingern besteht. Als auffälliges Vehikel ist die auf diversen ihrer Fotos zu sehen. Für Autogramme legt Katayama diese scherenartige Handform auf einem Papier ab, zeichnet eine Silhouette drumherum und schreibt ihren Namen rein. Aber noch auffälliger sind ihre Beine, oder die Abwesenheit derselben, an deren Stelle zwei Prothesen stehen. Auch diese körperliche Besonderheit begegnet dem Betrachter schnell in ihren Werken. Bei den oft erotischen Fotos wundert man sich erst, begleitet vielleicht von einem Schockgefühl. Doch schnell wird man warm mit dem Anblick, beginnt ihn zu mögen, zu bewundern.

In ihrem Heimatland Japan ist die Fotokünstlerin Mari Katayama, die vor allem sich selbst abbildet, schon länger eine größere Nummer. Vor fünf Jahren war sie das Postergirl der „Roppongi Crossing“, einer viel diskutierten Ausstellung im Tokioter Mori Art Museum, das die vielversprechendsten jungen Künstler des Landes zeigt. Außerhalb Japans hat sie seitdem in London, Amsterdam, Wien und anderen wichtigen Städten der Kulturszene ausgestellt. Natsumi Araki, die Kuratorin des Mori Art Museums, sieht in Katayamas Werken „die Schönheit des Verlusts.“

Ist es wirklich nur das, was die Bilder der 34-Jährigen so anziehend machen? Wie sie da so in Unterwäsche auf einem Stuhl sitzt, wie eine Femme fatale, aber mit den Füßen den Boden nicht erreicht, weil sie keine Füße hat. Oder wie sie eine lange Zigarette in der Hand hält, während einem noch beim ersten Hinsehen diese Hand ins Auge sticht, weil sie eben nur aus zwei Fingern besteht. „Ich stelle bloß das dar, was ich selbst durch meinen Körper erlebe“, sagt Mari Katayama bei einem Treffen in Takasaki, einer Stadt mit knapp 400.000 Einwohnern in der eher ländlichen Präfektur Gunma in Zentraljapan. Hier wohnt Katayama noch heute, hier zieht sie ihre dreijährige Tochter auf, hier arbeitet sie von ihrer Wohnung aus, wenn sie nicht gerade unterwegs ist. Bei einem Spaziergang durch Takasaki sagt Katayama: „Man muss lernen, mit seinen eigenen Besonderheiten klarzukommen. Sonst hat man ein Problem.“

Mari Katayama lernte das früh in ihrem Leben. Auf dem Weg dahin fiel sie mehrmals, stand aber nur noch häufiger wieder auf. Als Kind wurde an ihr eine Tibiale Hemimelie entdeckt, eine angeborene Unterentwicklung der Schienbeine sowie in ihrem Fall der linken Hand. Mit neun musste Mari entscheiden, ob sie ihr Leben im Rollstuhl verbringen oder sich die Beine amputieren lassen würde. „Für mich war das klar. Nur mit der Amputation würde ich eines Tages wieder laufen können.“ Nur hatte sie damit nicht nur ihre Beine verloren, sondern auch viele Freunde. Sie wurde zum Ziel von Mobbing. Weil es im ländlichen Japan der 1990er Jahre auch keine inklusiven Kleidungsgeschäfte gab, lernte Mari schon als Kind das Nähen. Sie machte ihre eigenen Kuscheltiere und Kissen, auch Imitationen ihrer Beine, die sie nicht mehr hatte und Entwürfe von Schuhen, die sie theoretisch nicht mehr brauchte.

Verwunderung bis Begeisterung

Eines Tages, zu Anfang der sozialen Medien im Internet, postete die Pubertierende auf der Plattform MySpace ein Foto. Um den Maßstab ihrer Näherzeugnisse zu zeigen, stellte sie sich in ihrem Kinderzimmer selbst mit ins Bild. Die Beinstümpfe waren sichtbar, die Prothesen daneben abgestellt. Die Reaktionen, die von Verwunderung bis Begeisterung reichten, bezogen sich weniger auf die von ihr genähten Kuscheltiere, als auf die Bildkomposition als ganze, in der Mari Katayama selbst die entscheidende Rolle spielte. Ihr wurde klar, dass ihr Aussehen kein Makel sein müsste. Und dass sie auch aufhören könnte, vorgefertigten Schönheitsidealen zu entsprechen, wie sie es als Heranwachsende getan hatte.

Heute spielt Katayama mit der Dekonstruktion von Schönheitsidealen. In ihrer Fotoreihe, „You’re mine“, räkelt sie sich auf einem Bett, die Prothesen abgelegt, in einem weißen Negligé. Wer zuvor dachte, man müsse Beine haben, um sexy zu sein, wird hier etwas über die Ästhetik vermeintlicher Unvollkommenheit lernen. Ein weiteres Bild zeigt Katayama umkreist von ihren Näherzeugnissen. Da ist ein Stoffduplikat ihrer linken Hand zu sehen sowie ein mit genähtem Stoffrand verzierter Spiegel. „Als Mädchen habe ich durch das Nähen immer versucht, die gleichen Klamotten tragen zu können wie die anderen. Das Nähen war mein Versuch, so schön zu sein wie die anderen.“

Homogenität und Anpassung

Simon Baker, einst Kurator des Londoner Tate Modern, sagt über Katayama: „Ihre Bilder kommunizieren auf ganz eigene Weise. Da spricht diese unglaublich starke Stimme.“ Auf dem internationalen Fotofestival Kyotographie, in Japans vermeintlicher Kulturhauptstadt Kyoto, stellten Baker und Katayama letztes Jahr weitere von Katayamas Fotografien aus. Ab dem 3. September, mit einer pandemiebedingten Verspätung um gut ein Jahr, werden ihre Werke in der Maison Européenne de la Photographie in Paris ausgestellt. Auch in der Tokioter Galerie Akio Nagasawa hängen derzeit ihre Bilder.

Für Mari Katayama könnte 2021 ihr bisher größtes Jahr werden. In Tokio finden nach den Olympischen nun die Paralympischen Spiele statt. Seit einiger Zeit prangt überall das Motto: „unity in diversity.“ Während in der japanischen Gesellschaft bisher vor allem Homogenität und Anpassung als positiv galt, wollen die Veranstalter des größten Sportevents der Welt nun offiziell die menschliche Vielfalt hochleben lassen. Mari Katayama wurde deshalb schon vor einigen Jahren, kurz nachdem Tokio das Austragungsrecht gewonnen hatte, von einem Vertreter von Google angerufen, der nach einem passenden Gesicht für eine neue Werbekampagne suchte. Die erste Frage habe gelautet: „Sie sind doch behindert, oder?“
Katayama dankte für das Interesse. Und legte auf.