Für viele Wienerinnen und Wiener war es gestern der letzte Kulturabend vor dem Lockdown: Staatsoper, Burgtheater, Akademietheater und Konzerthaus waren gut gebucht bis ausverkauft. Die Menschen stürmten noch einmal die Kinos und vor allem die Restaurants und Bars in der ganzen Stadt. Vorfreude lag am frühen Abend beinahe gnädigerweise über der Stadt. Es war wie ein letztes Aufbäumen. Einmal noch: die Bühne erleben, Klassik genießen, den Applaus hören, ein Leinwanderlebnis tanken, sich mit den anderen von Musik, Theater und Kino gemeinsam betören und vom Covid-19-Alltag wegbeamen lassen. Es war ein guter, milder früher Abend.

Die Stimmung an den Kulturtankern der Stadt war "fast ein bisschen weihevoll", erzählt eine Augenzeugin. Es war allen klar: zu Punkt Mitternacht zieht der Kulturstillstand ins Land. Die verordnete Zwangspause. An der Staatsoper begrüßte der Direktor Bogdan Roscis sein Publikum zum Verismo-Operndoppel "Cavalleria Rusticana" und "Pagliacci" unter anderen mit Superstar Roberto Alagna. Der Hausherr zitierte eingangs Brecht und hielt ein Plädoyer für die Kulturschaffenden in diesem Land. Man sei, sagte er, "bereit für den Dezember".

Kurz vor der Pause gegen 20.40 Uhr gab es erste Meldungen über eine Schießerei. Die Staatsoper entschloss sich - wie alle anderen Häuser auch - weiterzuspielen. Und nach Absprachen mit der Polizei, die Menschen in Sicherheit zu lassen. Kurz nach dem Schlussapplaus trat Roscic an der Staatsoper vor den Vorhang, er informierte über die Anschläge. "Es war 22.22 Uhr. Ich habe noch während des Schlussapplauses zu Hause angerufen", erzählt Kleine Zeitung-Journalistin Ambra Schuster. Schon nach der Pause, erzählt sie, vibrierten verstärkt Smartphones, viele Menschen hielten sich auf dem Laufenden. In der Pause durfte niemand die Staatsoper verlassen. "Ich war mir bewusst, dass wir mit rund 1000 Leuten wohl die größte Menschenansammlung an diesem Abend gewesen sein mussten", sagt Schuster.

Die Säle wurden geöffnet, das Buffet auch, der Direktor informierte die Besucher via Ansagen, die Stimmung sei ruhig gewesen, gar nicht panikhaft. Viele Menschen flüchteten sich in Logen, auf der Bühne spielte ein Streicher-Quartett zur Ablenkung, andere konsumierten Getränke im Marmor-Saal. "Dann gab es eine einmalige Möglichkeit, die U4 stadtauswärts zu nützen - für alle, die dort hin mussten. Wir mussten in die andere Richtung, also blieben wir", erzählt sie. Die Stimmung sei ruhig gewesen. "Alle haben telefoniert und sich online informiert." Und die Spezial ZiB flimmerte über die Leinwand. Nach Mitternacht wurden die Opernbesucher via der U-Bahn-Station Karlsplatz und U1, U2 und U4 in die unsichere Nacht entlassen.

Publikumgespräche im Burgtheater

Ähnliche Szenen spielten sich auch im Burgtheater mit 500 Gästen bei der Vorstellung zu "Das Himmelszelt" und im Akademietheater mit rund 200 Gästen bei "Der Henker" ab. Die Direktion sei früh mit der Polizei in Kontakt gewesen, man sei gebeten worden, die Türen zu verschließen. Martin Kusej, der eigentlich eine flammende Rede auf die Systemzrelevanz von Kultur halten wollte, informierte die Zuschauer
im Burgtheater persönlich. "Die Leute waren sehr kooperativ und sind sehr ruhig geblieben", erklärt eine Sprecherin. Die Wartenden erhielten Wasser, die Buffets wurden aufgesperrt. Und: In beiden Häusern haben sich Schauspieler und Kusej zu spontanen Publikumsgesprächen auf die Bühne gegeben, wir haben Fragen zum Lockdown beantwortet, zur Inszenierung und auch Feedback erhalten. Gegen 0.45 Uhr seien die Menschen im Burgtheater - nach drei Stunden - Wartezeit evakuiert worden. Mittels Polizeischutz und der Errichtung eines Korridors über die U-Bahn-Station Schottentor, jene im Akademietheater über die U-Bahn-Station Stadtpark. "Ja, es ist Gott sei Dank an diesem Abend für unser Haus gut ausgegangen."

Viele Zugaben im Konzerthaus

Ein Doppelkonzert von Starpercussionist Martin Grubinger mit der Bläserphilharmonie Mozarteum Salzburg und rund 1000 Besucherinnen und Besuchern stand im Konzerthaus auf dem Programm. Das erste Konzert begann um 18 Uhr, das zweite um 20.30. Zwei Augenzeuginnen berichten von letzterem: "Wie wir die Stunden erlebt haben? Das Konzert hat ja erst um 20.30 Uhr begonnen, wenige Minuten, bevor die ersten Schüsse fielen. Von meinem Bruder bekamen wir dann bereits die Nachricht über die Vorgänge draußen, und auch viele andere im Konzertsaat dürften da bereits Bescheid gewusst haben. Doch alles blieb ruhig. Ich habe nichts davon gemerkt, dass im Saal Unruhe geherrscht hätte, alle waren sehr aufmerksam und haben versucht, sich aufs Konzert zu konzentrieren. Am Ende wurden viele Zugaben bespielt, da war mir bereits bewusst, dass wir nicht rausgehen dürfen", erzählt Julia W.

Und eine andere Augenzeugin berichtet: "Alles hat wunderbar begonnen. Das Publikum war sich bewusst, wie wertvoll dieser Abend vor dem kulturellen Lockdown eigentlich ist", erzählt sie. Es lag Vorfreude in der Luft. Und Empathie.

"Eigentlich waren die Leute diszipliniert und haben nicht dauernd auf ihr Display geschaut." Vor den Zugaben gab es eine Ansage: "Bitte bleiben Sie sitzen, weil es einen Terroranschlag gegeben hat." Das Publikum reagierte verständnisvoll. Und Martin Grubinger und das Ensemble waren ein Traum: "Sie blieben auf der Bühne, spielten weiter, sie gaben den Leuten ein bisschen Sicherheit." Und: "Grubinger hat sich auch immer wieder zu Wort gemeldet. Hut ab vor ihm als Künstler! Aber auch Hut ab vor ihm als Mensch", sagt die Augenzeugin. Über den Korridor Richtung Stadtpark wurden die Gäste schließlich zur U-Bahn-Station Stadtpark geleitet, eine zweite Gruppe fuhr u.a. mit dem Pkw nach Mitternacht nach Hause.

Ausharren im Jazz-Club

Die Grazer Performerin Carola Gartlgruber wollte noch ein letztes Konzert erleben und fuhr mit Freunden nach Wien, um Christian Bakanic's Trio Infernal zu hören. Bis zum Ende. Nach der Zugabe, auf die das Publikum vorerst warten muss, kommt der Chef auf die Bühne: erklärt die Lage, die Situation und bietet eine Lösung an, in dem er sagte: "Hier sind Sie in Sicherheit". Die Zuhörerin bleibt. Lauscht dem Spontankonzert, das dann folgt. Bis 2.15 Uhr ungefähr harren die meisten Besucherinnen und Besucher an diesem Abend aus. Dann steigt die Truppe aus Graz ins Auto und fährt nach Hause. Noch dann ist die Stadt voller Polizei und selbst auf der Autobahn kommen viele Wagen mit Blaulicht entgegen. Die Musik, das Gemeinschaftsgefühl, hätten Gartlgruber viel gegeben. Lesen Sie dazu ihr berührendes Posting auf Facebook.