Hinter den Baracken brennt
Feuer, Feuer Tag und Nacht.
Jeder Jude es hier kennt
jeder weiß, für wen es brennt,
und kein Aug’, das uns bewacht.

Ruth Klüger hat diese ästhetisch sehr einfachen Reime mit zwölf Jahren geschrieben, in Todesangst. Mit elf wurde sie von den Nazis deportiert, kam schließlich nach Auschwitz. Die Gedichte, die sie sich im Todeslager ausdachte, waren eine Überlebenshilfe. Geschrieben hat sie diese Gedichte streng genommen nicht: Zum Schreiben hatte sie nichts, die Reime existierten in ihrem Kopf. Mit Gedichten kannte sich Ruth Klüger aus, weil sie schon als jüdisches Kind in Wien wenig anderes zu tun hatte, als Gedichte auswendig zu lernen. In die Schule durfte sie ja nicht mehr.

Was Ausgrenzung und Verfolgung in einem Kind anrichten, hat sie in ihrem Erinnerungsband „weiter leben – eine Jugend“ festgehalten. Sie war sechs Jahre alt, als die Nazis in ihrer Heimatstadt Wien einmarschierten. Und jubelnd willkommen geheißen wurden. Ihre Erzählung von einer Kindheit in einem menschenverachtenden Regime und im KZ sind neben Primo Levis „Ist das ein Mensch?“ und Jean Amérys „Jenseits von Schuld und Sühne“ eine der bedeutendsten Überlebensberichte aus der Nazizeit. Die analytische Klugheit und Klarheit, mit der sie das Unvorstellbare beschreibt, sind singulär. Klüger war eine intellektuell und literarisch brillante Zeugin einer Welt, die für sie die Vernichtung bereit gehalten hatte.

Doch das Mädchen überlebte. Nach dem Krieg studierte es erst in Regensburg, emigrierte aber bereits 1947 – mit 16 – in die USA. Ihre wissenschaftliche Karriere begann Klüger in Berkeley, sie war später Professorin in amerikanischen Elite-Unis wie Irvine und Princeton.
Denn Klüger wurde eine eminente Wissenschaftlerin, die von den Deutschen Verfolgte ließ sich von den Verbrechern ihre Liebe zur deutschen Literatur nicht nehmen. Ihre Studien „Katastrophen“, „Gelesene Wirklichkeit“, „Frauen lesen anders“ sowie ihre Gedanken zu Kleist, Ebner-Eschenbach, Schnitzler und anderen sind germanistische Schätze. Ihre Arbeit als Literaturkritikerin war nicht weniger bedeutend.

"Probeweise" in die Geburtsstadt Wien

Klüger veröffentlichte den zweiten Erinnerungsband „unterwegs verloren“ und publizierte Gedichte, auch ihre Jugendwerke aus dem KZ hielt sie nicht unter Verschluss. Sie übernahm eine Professur in Deutschland, kam „probeweise“ auch nach Wien zurück. Warm wurde sie nie mehr mit ihrer Geburtsstadt. „Ich halte Ressentiments für ein angebrachtes Gefühl für Unrecht, das nicht wiedergutzumachen ist“, sagte Klüger, die meinte, „wir Überlebende sind nicht zuständig für Verzeihung“. Der Bruch konnte auch durch viele Ehrungen nicht geschlossen werden. Staatspreis für Literaturkritik, Kreisky-Preis fürs politische Buch, Ehrendoktorwürden Hüben wie Drüben. Klüger ließ das über sich ergehen, freute sich, aber artikulierte immer auch Unbehagen und Distanz. Freilich in der ihr eigenen noblen, respektvollen Art, der auch ihren literarischen Stil prägte.

Klüger starb am Dienstag in Irvine, Kalifornien. Kulturstaatssekretärin Andrea Mayer war eine von vielen, die gestern Klügers Wirken würdigten: „Ihre mahnende Stimme gegen das Vergessen mag nun verstummt sein, aber ihr Werk wird noch viele Generationen begleiten.“
Ruth Klüger war ein Geistesmensch, der dem Wahnsinn der Weltläufte und der Barbarei zum Trotz ein grandioses Lebenswerk schuf. Oder wie sie es viel besser selbst ausdrückte, eines ihrer Gedichte kommentierend: „Der Galgenplatz, auf dem der Flieder blüht. Das ist vielleicht das richtige Symbol für mein Leben und das Leben vieler anderer in der Nachkriegswelt“.

Buchtipps: Ruth Klüger. weiter leben. Wallstein. 285 Seiten, 15,40 Euro und: Zerreißproben. dtv. 120 Seiten, 10,20 Euro.