Aufgewachsen bin ich in einem kleinen Ort mit rund 1500 Einwohnern im Bezirk Rohrbach im Mühlviertel in Oberösterreich. Meine Eltern haben dort ein Gasthaus betrieben: den Kirchenwirt. Diese Umgebung hat meine fünf Schwestern, meinen Bruder und mich sehr geprägt. In einem Wirtshaus ist das Private immer öffentlich und das Öffentliche wirkt ins Privatleben hinein.

Ich habe schon als Kind in der Gaststube geholfen und so auch alle Stammtischgespräche mitbekommen. Nachmittags, wenn nur wenige Gäste da waren, hat meine Mutter manchmal gesagt: „Unterhalte bitte den Herrn Soundso ein bisschen!“ Dann habe ich mich als Zehnjährige zum Herrn Soundso gesetzt und das Gespräch meistens mit dem aktuellen Wetter eingeleitet.

Da konnte man nichts falsch machen, da in einer bäuerlichen Gegend das Wetter immer ein Thema war. So habe ich nicht nur gelernt, was man heute als Smalltalk bezeichnet, sondern auch, mich auf unterschiedliche Menschen und Situationen einzustellen.

Die Natur war immer ein Rückzugsgebiet für die heutige Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek
Die Natur war immer ein Rückzugsgebiet für die heutige Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek © Privat

Am Freitag bin ich immer mit der Blasmusik eingeschlafen, die in unserem Tanzsaal probte und bis ins Kinderzimmer zu hören war. Deswegen habe ich wahrscheinlich auch heute noch ein großes Faible für die Blasmusik. Rückzugsorte waren rar. Wenn ich allein sein wollte, bin ich in die Natur gegangen. Das ist mir auch heute noch wichtig.
Als ich nach der Matura zum Studieren nach Wien gekommen bin, war das anfangs sehr schwierig. Ich war vom Heimweh geplagt und das Alleinsein in einem Studentenzimmer fiel mir sehr schwer, da ich gewohnt war, immer von vielen Menschen umgeben zu sein.

Meine Eltern waren sehr beschäftigt, wir hatten im Gasthaus keinen Ruhetag und sind nie auf Urlaub gefahren. Ein schönes Bild in meiner Erinnerung: Zum Frühstück sind meine Eltern zusammengesessen, haben sich Zeit genommen und den Tagesablauf und alles, was sonst noch wichtig war, besprochen. Das waren so Momente, wo ich gespürt habe, dass sie ihre Arbeit gerne machen. Es gab auch stets ein gemeinsames Mittagessen – auch am Sonntag, wo in der Gaststube besonders viel los war. Meine Mutter hat im Betrieb voll mitgearbeitet und die älteren Kinder haben auf die kleineren aufgepasst. Ich als vorletztes Kind habe immer mitgelernt. Ich konnte schon mit zehn Jahren „Die Bürgschaft“, „Die Glocke“ oder den „Erlkönig“ rezitieren.

Disziplin, Strenge, Verantwortung

Damals war es am Land nicht unbedingt üblich, dass man zu Mädchen gesagt hat, sie sollen etwas lernen. Mein Vater aber hat zu meinen Schwestern und mir immer gesagt: „Tuts was lernen, schauts, dass euer eigenes Geld verdients, und dann könnts immer noch heiraten.“ Daran haben wir uns alle gehalten. Wir sind auch sehr leistungsorientiert erzogen worden, mussten früh Verantwortung übernehmen – es herrschte eine gewisse Disziplin und Strenge. Unsere Eltern haben uns Kindern vor allem christliche Werte vermittelt. Wir waren ja auch der Kirchenwirt! Sehr viel im sozialen Leben hat sich über die Pfarre abgespielt. Ich bin immer gerne in die Kirche gegangen, habe das auch als soziales Netzwerk gesehen, wo man andere trifft und in Kontakt kommt.

Ein Bild aus Kindheitstagen
Ein Bild aus Kindheitstagen © Privat


Sehr gerne wäre ich Sternsingerin geworden, aber das durften Mädchen damals nicht. Ich sehe heute noch die Buben vor mir, wie sie durch den Schnee in die Dörfer stapften und als Kaspar, Melchior und Balthasar die einzelnen Häuser aufsuchten. Und ich, die ich alle Lieder und Texte auswendig konnte, durfte ihnen nur sehnsuchtsvoll nachschauen. Um die Freiheit des Hinausziehens habe ich sie beneidet, ich hätte aber auch gerne gesehen, wie die Leute wohnen. Deswegen wollte ich als Kind auch Briefträgerin werden. Aus heutiger Sicht wäre es wohl die falsche Berufswahl gewesen. Mittlerweile sind vor den Häusern Briefkästen angebracht.

Ihr Wunsch: finanzielle Unabhängigkeit

Zu Hause mitzuhelfen war eine Selbstverständlichkeit. Jedes Kind hatte seine Aufgaben zu erfüllen, da gab es keine Diskussionen. Rückblickend bin ich meinen Eltern dankbar dafür. Werte wie Leistung, Disziplin und Verantwortung haben mir später, auch in beruflichen Tätigkeiten, sehr geholfen. Mein Wunsch war immer, dass ich einen Beruf habe und finanziell unabhängig bin. In meiner Jugend waren viele Frauen von ihren Männern finanziell abhängig. Bäuerinnen mussten ihre Männer um Geld bitten, wenn sie zum Beispiel bei einem Ausflug mitfahren wollten. Für mich wäre so etwas unvorstellbar gewesen.
Arbeiten und Verantwortung zu übernehmen, hat in meinem Leben immer eine wichtige Rolle gespielt und tut es auch heute noch – ich habe Arbeit nie als Belastung, sondern immer als befriedigend und sinnstiftend empfunden.

Da meine Eltern immer sehr beschäftigt waren, haben sie uns Kindern viele Freiheiten gelassen. Am Land hat es oft geheißen, lesen halte von der Arbeit ab. Bei uns war das nicht so – Bücher waren gern gesehen und wir haben eigentlich alle gelesen. Mein Vater hat auch viel in der Nacht gelesen – zum Leidwesen meiner Mutter. Im Ort gab es zwar keine Buchhandlung, aber eine Pfarrbücherei und wir waren Mitglied bei Donauland.

Seit 1993 verheiratet: Johanna Rachinger und Verleger Fritz Panzer
Seit 1993 verheiratet: Johanna Rachinger und Verleger Fritz Panzer © Privat


Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, dass ich immer mit Begeisterung die Annotationen im Donaulandkatalog gelesen und mir in meiner Fantasie ausgemalt habe, wie das Buch ausgeht. Wir waren die Ersten im Ort, die einen Fernseher hatten. Er wurde 1960, in meinem Geburtsjahr, angeschafft. Auf einem eigens angebrachten Schild vor dem Eingang stand „Hier Fernsehen“. An einem Freitag, wenn die „Löwinger-Bühne“ oder der „Komödienstadel“ gesendet wurden, war die Gaststube bummvoll.

Irgendwann haben meine Eltern auch eine mobile Kinobestuhlung angeschafft und sie im Tanzsaal aufgestellt, ab diesem Zeitpunkt kam regelmäßig ein fahrendes Kino zu uns.