Der Sog, er wirkt. Noch immer. Schon nach ein paar Minuten treibtman mit im Flow der Worte, in den Wirbeln und Katarakten dieser Zornrede namens „Heldenplatz“, mitgerissen vom Furor und der Sprachkunst Thomas Bernhards. Hingerissen aber auch von der Sprechkunst des Schauspielers Florian Köhler, der hier in Dauerwelle und Trauerbrosche als Frau Zittel auf der Bühne steht, als Wirtschafterin des Wiener Mathematikprofessors Josef Schuster also, der sich jüngst aus dem Fenster seiner Wohnung auf den Heldenplatz hinuntergestürzt hat, aus Verzweiflung über den Judenhass, die Niedertracht und den Stumpfsinn seiner Landsleute.

Köhler ist großartig in dieser Rolle, er spielt sie ohne auch nur einen Hauch von Drag-Chichi, und dazu gelingt ihm der frappierende Effekt, in den langen Monologpassagen, in denen Frau Zittel ihren toten Arbeitgeber zitiert, ebendiesen immer wieder aus dem eigenen Gesicht herausschauen zu lassen. Ein großer, unheimlicher Auftritt, und dazu ein überzeugendes Argument, diesen „Heldenplatz“ über die Geschlechtergrenzen hinweg zu besetzen.

Allerdings wirkt nicht jede Besetzungsentscheidung in Franz-Xaver Mayrs Inszenierung am Grazer Schauspielhaus derart zwingend: Die junge Julia Franz Richter etwa, die Professor Robert spielt, den gebrechlichen Bruder des Verstorbenen, wirkt mit dieser zentralen Figur und ihren Tiraden recht alleingelassen, auch wenn im Programmheft ausführlich begründet wird, dass Texte wie dieser traditionelle Rollenbilder transzendieren. Und dass ein Chor Schlüsselpassagen des Textes skandiert, etwa über die Verkommenheit von Industrie und Klerus und den Niedergang des heimischen Sozialismus, weicht auf, was sich an anderer Stelle eisig wie Raureif über die Gegenwart zu legen scheint: Mehr als 30 Jahre alt und klingt wie frisch geschrieben, da ließe sich gut frösteln an Österreich.

Laut Programmheft ist diese Grazer Inszenierung erst die dritte österreichische „Heldenplatz“-Produktion seit der Uraufführung am Wiener Burgtheater. Beauftragt und inszeniert hatte diese der damalige Direktor Claus Peymann zum „Bedenkjahr“ 1988, im Vorfeld entspann sich eine legendäre, mit medialem Geifer gut geschmierte öffentliche Empörung um den bis dahin nur passagenweise bekannten Text. Der beschreibt das Trauma einer jüdischen Wiener Intellektuellenfamilie, die nach der Rückkehr aus dem 1938 erzwungenen Exil erkennen musste, dass in Österreich 50 Jahre nach dem „Anschluss“ das politische Klima sogar noch giftiger geworden ist als damals zur NS-Zeit.

Heute gilt „Heldenplatz“ gleichermaßen als Geburtshelfer bei der Aufarbeitung des österreichischen Nazi-Opfermythos und als Teil der dramatischen Folklore. Bei aller Klüftigkeit seiner Inszenierung findet Mayr aber einen Weg, das Stück von solchen Bedeutsamkeitskrusten zu befreien. Er stellt in minimaler Kulisse (Bühne: Korbinian Schmidt) und in hoch melodiösen Szenen, die vom Ensemble (Raphael Muff, Evamaria Salcher, Oliver Chomik, Franz Solar, Fredrik Jan Hofmann, Julia Gräfner) bravourös getragen werden, die Künstlichkeit und Komik der bernhardschen Tiraden aus und gibt dem Publikum mit Sarah Sophia Meyer eine verschmitzte Erklärbärin zur Seite, die mit volksbildnerischem Vorzeigegestus historischen Kontext schafft und großzügig Sekundärliteratur empfiehlt.

Bei all dem erweist sich dieser unterdosiert gallige „Heldenplatz“ letztlich vor allem als Unterhaltungsabend. Der zeigt immerhin auch: Selbst schneidendste Kritik ist längst ins anscheinend unerschütterliche österreichische Selbstbild eingemeindet. Seitenhiebe über das „Nazinest“, die „absolute Unstadt“ Graz lassen sich da ebenso kichernd wegstecken wie der bernhardsche Furor über die Niedertracht einer Gesellschaft, die gelernt hat, sich auch vor ihren widerlichsten Auswürfen nicht zu grausen. Das reicht für freundlichen Applaus nach knapp drei Stunden.

Heldenplatz. Von Thomas Bernhard.
Regie: Franz-Xaver Mayr.
Bühne: Korbinian Schmidt.
Kostüme: Michela Flück.
Musik: Matija Schellander.
Mit Florian Köhler, Raphael Muff, Julia Franz Richter, Evamaria Salcher, Oliver Chomik, Franz Solar, Sarah Sophia Meyer, Fredrik Jan Hofmann, Julia Gräfner.
Termine: 14., 15., 22, 24. Jänner, 6., 8. Februar.
www.schauspielhaus-graz.com