Der Film beginnt mit dem jungen Häftling Siggi Jepsen, der im Jugendarrest auf einer Elbinsel einen Aufsatz zum Thema „Die Freuden der Pflicht“ schreiben soll. Das gelingt ihm nicht auf Anhieb. Was fällt Ihnen zu den „Freuden der Pflicht“ ein?
TOBIAS MORETTI: Durch den Blick auf den Zeitpunkt der Handlung, die Geschichte spielt ja vor allem in der Hitler-Zeit, ergibt dieser Satz natürlich ein negatives Bild, hat mehr mit Pflicht zu tun als mit Freude. Es ist eine Exposition für den Blick des einstigen Kindes Siggi, der die damaligen Geschehnisse nicht mehr aus dem Kopf kriegt. Deshalb muss er es einfordern – indem er schließlich doch zu schreiben beginnt, und zwar ausführlich. Was in seiner Erzählung passiert, ist symptomatisch für die Generation dieser Zeit, die damit hat umgehen müssen und der das alles den Atem ihrer Zukunft genommen hat. Das Epos von Siegfried Lenz hat Wucht und Atemlosigkeit, das Drehbuch von Heide Schwochow ist eine starke Essenz des Romans, sodass das 600-Seiten-Werk zu einem sehr dichten Film geworden ist.

Tobias Moretti als Maler Max Ludwig Nansen im Film "Deutschstunde"
Tobias Moretti als Maler Max Ludwig Nansen im Film "Deutschstunde" © (c) Georges Pauly

Mit Bezug auch zum Heute?
MORETTI: Die großen Erzählungen sind immerwährend und immer heutig. Wie große Dichter ihre Zeit beschreiben, bleibt ewig aktuell.

Wie Shakespeare?
MORETTI: Ganz richtig. Der hat ja mit dem „Kaufmann von Venedig“ auch nicht Venedig, sondern London gemeint.

Die von Ihnen verkörperte Figur des expressionistischen Malers Max Ludwig Nansen ist dem Vernehmen nach an Emil Nolde angelehnt, dessen Werke im Nationalsozialismus als „entartete Kunst“ verfemt wurden. Dafür wurde der Autor Siegfried Lenz kritisiert, weil Nolde ja letztendlich doch ein Anhänger der Nazis war. Ihr Film-Nansen ist aber nicht als solcher erkennbar?
MORETTI: Lenz hat sich rasch davon distanziert, dass er Nolde gemeint haben könnte. Er kannte Nolde, dessen expressionistischer Stil war für ihn wohl ein Paradigma für die existenzielle Leidenschaft der Kunst, aber Nansen ist wirklich nicht Nolde und sollte es auch nicht sein. Im Übrigen wusste Lenz klarerweise nicht, dass Nolde selbst Anhänger der Nazi-Ideologie war. Es würde ja auch in der Erzählung keinen Sinn ergeben, wenn ein Nazi ein Malverbot ausgerechnet jemandem erteilt, der selbst ein Nazi ist. Generell gibt es Opportunismus und Systemimmanenz von damals auch heute, ebenso das gegenseitige Benützen und Instrumentalisieren. In Christian Schwochows Kinoversion passiert das großartig und bildlich ungemein plastisch. Es gibt keine Schwarz-Weiß-Zeichnung. Der Maler Nansen benützt ja zum Beispiel auch das Kind Siggi für seine Zwecke. Schwochow erzählt nie plakativ. Der ganze Film ist für mich wie ein Gemälde, ein Geschenk an die deutschsprachige Literatur.

Schrifsteller Siegfried Lenz, dessen Roman-Klassiker "Deutschstunde" 1968 erschien
Schrifsteller Siegfried Lenz, dessen Roman-Klassiker "Deutschstunde" 1968 erschien © APA

Wie würden Sie Siggis Vater Jens Ole Jepsen, großartig verkörpert von Ulrich Noethen, am besten beschreiben? Als pflichtverbohrten Nazi?
MORETTI: Jepsen vollbringt eine Kür aus Pflichterfüllung und Ehrgeiz. Er ist für mich einer, der am Ende nicht einmal mehr, wie ein uns allen bekannter Österreicher, sagen kann: „Ich habe nur meine Pflicht getan.“

Sie sind auch schon in „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ in die Tiefen des Nationalsozialismus getaucht, haben den „Jud Süß“-Darsteller Ferdinand Marian verkörpert. Haben Sie je nachgedacht, wie Sie selbst sich in der Nazi-Zeit verhalten hätten?
MORETTI: Bei „Jud Süß“ noch mehr als jetzt bei der „Deutschstunde“. Ich denke, für mich hätte es damals wohl nur eine Entscheidung gegeben. Ich wäre – wenn möglich – geflüchtet, weil ich unter diesem Regime moralisch überfordert gewesen wäre und bestimmt nicht überlebt hätte.

„Deutschstunde“-Regisseur Christian Schwochow kommt aus der DDR.
MORETTI: Somit ist auch er unter einem anderen „Freiheitsbegriff“ aufgewachsen. Er hat erzählt, dass sein Deutschlehrer entscheidend daran beteiligt gewesen war, dass er unbedingt diesen Film machen wollte. Aber der Geschichte lediglich Aktualität bescheinigen zu wollen, wäre zu klein gedacht. Wie wir wissen, läuten überall wieder Alarmglocken. Schwochow hat die „Deutschstunde“ aber mehr vom Ausgangspunkt aus analysiert.

Ein kurzer Blick zum ganz aktuellen Geschehen, nämlich zu den österreichischen Wahlen. Wie sehen Sie den Niedergang der Sozialdemokratie, den wir ja auch im benachbarten Deutschland drastisch erleben?
MORETTI: Die Sozialdemokratie hat sich von jenen entfernt, für die sie da sein soll. Und jetzt laufen ihr die Wähler in unterschiedliche Richtungen davon.

Zurück zur Figur des Max Ludwig Nansen. Muss man malen können, um einen Maler überzeugend zu spielen?
MORETTI: Sie haben mir dafür sogar eine Malerin an die Seite gestellt. Drei Wochen lang hat sie mich begleitet, um dem Strich ein Selbstverständnis zu geben. Sie hat mir Perspektive beigebracht, Farbumgang und dergleichen. Es war unglaublich spannend und wichtig für die Figur. Zwei von den Ergebnissen, also zwei Bilder, hängen jetzt sogar bei mir zu Hause.

Angesichts der globalen politischen Entwicklungen: Haben Sie Angst vor der Zukunft?
MORETTI: Die Zukunftsangst ist bei mir weniger ausgeprägt als die Hoffnung. Ich habe immer Hoffnung, denn Angst ist mir ein zu passiver Faktor.

Was sind Ihre nächsten beruflichen Taten?
MORETTI: Ich wirke in einem Beethoven-Film mit, in dem Ludwig van in mehreren Stationen seines Lebens gezeigt wird. Ich bin der alte Beethoven. Mit dem Dreh beginnen wir im November. Und im Film „Gypsy Queen“ spiele ich einen alten Boxtrainer. Eine Figur, die ich sehr gern gehabt habe.