Spätestens jetzt ist Richard Gerstl im Olymp der österreichischen Götter der Malkunst angekommen: Das Wiener Leopold Museum würdigt den Außenseiter des Kunstbetriebes um 1900, der früh aus dem Leben geschiedenen Künstlerseele eine monumentale Ausstellung, die 50 der bekannten 70 Werke Gerstls vereint und dabei mit Zeitgenossen und Nachfolgern kontextualisiert. Eine spannende Weitung des Blicks.

"Es war hoch an der Zeit, diesen Künstler wieder einmal groß zu präsentieren", zeigte sich Leopold-Direktor Hans-Peter Wipplinger bei der Präsentation am Donnerstag überzeugt. Der Museumsleiter hat die Schau gemeinsam mit Sammler-Sohn Diethard Leopold kuratiert. Und kein Haus wäre dazu berufener, finden sich doch 15 Werke Gerstls in der Sammlung Leopold, zu denen noch vier 4 Dauerleihgaben hinzukommen - also beinahe ein Drittel des Oeuvres.

Richard Gerstl, Selbstbildnis als Akt, 1908
Richard Gerstl, Selbstbildnis als Akt, 1908 © (c) Manfred Thumberger/Leopold Museum

"Von den zehn wichtigsten Werken sind sechs in der Sammlung Leopold", so Wipplinger selbstbewusst, der folgerichtig die Gründung eines Gerstl-Zentrums im Haus ankündigte, das unter anderem die Aufarbeitung des Otto Breicha Archivs betreiben soll - jenes Kunsthistorikers, der federführend an der Wiederentdeckung des lange vergessenen Malers mitgearbeitet hatte. Die Forschung nach weiteren Werken des 1908 mit Selbstmord aus dem Leben Geschiedenen gehört zu den weiteren Aufgaben, wurden doch mittlerweile elf Bilder dem Leopold Museum zur Begutachtung vorgelegt. "Drei davon sind in der Tat sehr interessant", so Wipplinger.

Es könnte also in Hinkunft noch weitere echte Gerstls geben. Aber auch die jetzt schon fix dem 1883 Geborenen zuzuordnenden sind beeindruckend, wie die Ausstellung mit dem stimmigen Untertitel "Inspiration - Vermächtnis" deutlich unterstreicht. Den 50 Arbeiten des jungen Wilden sind rund 175 weitere beigeordnet, die zeigen, wie weit der Künstler bisweilen seinen Zeitgenossen voraus war, wie sehr ihn Vorbilder wie Van Gogh beeinflussten und wie sehr er selbst Nachfolgern von Martha Jungwirth über Günter Brus bis zu Otto Muehl als Inspirationsquelle diente.

Die Entscheidung der Kuratoren, die Schau nicht monografisch, sondern als Wechselspiel aus Konfrontation und Anbindung zu gestalten, lässt Raum zur freien Assoziation, wie sie auch den vermeintlichen Außenseiter einbindet in die Entwicklungen seiner Zeit. Ein Saal kontrastiert oder besser fügt unter dem Titel "Das unrettbare Ich" die Selbstporträts von Gerstl und Rudolf Wacker oder Edvard Munch zusammen. Ein anderer hebt die Landschaftsmalerei aufs Tapet und zeigt deren Fortdenkung in den Arbeiten Arnulf Rainers.

Und zugleich wird die formalästhetische Bandbreite deutlich, mit der Gerstl experimentierte. Ist etwa "Mutter und Tochter" aus 1906 klar im Pointilismus verankert, zeigt "Gruppenbild mit Schönberg" aus 1908 den ungebremsten Farbrausch, die Auflösung der Strukturen an der Schwelle zur gänzlichen Abstraktion. Umso eindrücklicher erscheint dieses Werk, trug die unglücklich verlaufenden Affäre mit Mathilde Schönberg doch entscheidend zum Selbstmord des gesellschaftlich geschnittenen Gerstls am 4. November 1908 bei.

Die Gemeinsamkeiten zwischen Gerstl und dem Komponisten Schönberg gingen jedoch über die Liebe zur selben Frau hinaus, standen beide doch an der Schwelle ihrer jeweiligen Zunft auf dem Weg, alte Gewissheiten und Parameter zu zertrümmern. "Er ist nicht gut einzuordnen, weil sein Werk so divers und zukunftsweisend ist", konstatierte Diethard Leopold. Dies ist eine der Erklärungen, weshalb der nur 25 Jahre alt gewordene Gerstl trotz idealer Voraussetzungen für eine Legende - früh aus dem Leben geschieden, im Werk seiner Zeit voraus - in punkto Bekanntheit weit hinter den Expressionistenstars Oskar Kokoschka und Egon Schiele liegt.

Dass sich im Oeuvre Gerstls mehr findet als die Verschattung der unverstandenen Künstlerseele zeigen zugleich Arbeiten wie "Die Schwestern Fey" aus 1905, die sehr wohl Humor durchblitzen lassen. Und auch das bekannte, lachende Selbstporträt aus 1908 könne man optimistisch lesen, zeigte sich Leopold überzeugt: "Machen Sie sich selbst einen Reim darauf." Das können Kunstinteressierte noch bis 20. Jänner in Wien. Dann wandert die Schau weiter ins Schweizer Kunsthaus Zug.