In einer Zeit, in der Philosophen in TV-Shows griffige Pointen absondern und knackige Lösungen für jedwedes Problem der Menschheit präsentierten, ist Jürgen Habermas’ Denken eine formale Zumutung. Seine Philosophie ist in spröde, ja unsinnliche Fachsprache gekleidet, der es immer um eine möglichst präzise Darstellung des Inhalts ging. Habermas war nie ein Mode-Philosoph (obwohl seine Bücher zeitweilig linke Mode waren), sondern ein sich in seine Themen verbeißender Denkarbeiter, dessen Ertrag Dutzende relevante Beiträge zur Geistesgeschichte waren. Einige davon waren revolutionär.

Habermas fällt früh auf, als der Mittzwanziger dem ontologischen Geraune Martin Heideggers ins Wort fällt. Herangezogen im Klima der Kritischen Theorie der Frankfurter Denkschule um Theodor W. Adorno, begehrt der 1929 in Düsseldorf geborene Habermas bald aber auch gegen seine philosophischen Väter auf. Der Glaube an die Vernunft, ans Projekt Aufklärung, war nach der traumatischen Erfahrung der Moderne, nach Weltkrieg, Faschismus und Atombomben nachhaltig beschädigt.

Jürgen Habermas im Jahr 1981 in seinem Haus am Starnberger See
Jürgen Habermas im Jahr 1981 in seinem Haus am Starnberger See © Roland Witschel/dpa/ pictured

Während die Kritische Theorie das Scheitern der Aufklärung untersucht, möchte Habermas das emanzipatorische Projekt fortsetzen. Die „kommunikative Wende“, mit der er Kommunikation und Sprache als Grundlage eines neuen Vernunftmodells gegen die rein instrumentelle Vernunft etabliert, wird Vehikel eines Optimismus, der auf den Ruinen der Moderne entsteht. Habermas’ berühmt gewordener „zwanglose Zwang des besseren Arguments“ zeigt seinen fundamentalen Glauben an die Möglichkeit der Verständigung, der Vernunftbegabtheit des Menschen. Man könnte überspitzt sagen: den Glauben an das Gute, das sich im Austausch von Argumenten manifestiert.

Habermas wird selbst zum leuchtenden Beispiel eines Kommunizierenden. Er ist bereit, die öffentliche Rolle einzunehmen, die die Gesellschaft in den Nachkriegsjahrzehnten den Intellektuellen noch zugesteht. Habermas arbeitet nicht im Elfenbeinturm, er publiziert zahllose Text zum Zeitgeschehen, mischt sich ein, bezieht Stellung. Habermas ist der öffentliche, engagierte Intellektuelle par excellence. Im „Historikerstreit“ um die Singularität des Holocaust ist seine Stimme eine der tiefsten und nachhaltigsten, mit Peter Sloterdijk (über Eugenik) und Michel Foucault (über die probatere Analyse der Macht) führt er Kontroversen und beschäftigt sich mit zunehmendem Alter immer intensiver mit Fragen der Demokratie, der Gerechtigkeit, mit der Idee Europas und der Überwindung von nationalistischen Denkmustern.

Seine Bücher haben den Geist der 68er befeuert, er wurde zum Mandarin linksliberaler Verfasstheit, zum leidenschaftlichen Proponenten der liberalen Demokratie und zum Vertreter der brillanten Analyse, die von gründlichem Nachdenken und nicht vom schönen Klang der Worte geleitet wird. Dass die Rolle der Intellektuellen, zumal der klassischen Philosophen im öffentlichen Diskurs heute immer unbedeutender wird, konnte auch seine intellektuelle Allgegenwart nicht verhindern. Nach ihm hat in Deutschland nur noch Peter Sloterdijk ähnlich öffentlichkeitswirksam philosophiert.

So unsexy sein Denken daherkommt, umso wichtiger ist es heute. Es wäre das Gegengift zum politischen Zynismus, zum Endzeitdenken und zu den in sozialen Plattformen kultivierten Gräben und diskursiven Verbiegungen und Verrenkungen. Verstummen wird Jürgen Habermas noch lange nicht. Er hat ein 1700 Seiten starkes Werk in Vorbereitung.