Für Michael Jackson gilt posthum noch immer die Unschuldsvermutung. Aber seit zwei Männer in einem Dokumentarfilm, der im April auch im deutschen Fernsehen laufen wird, ihre Vorwürfe gegen Jackson auf sehr glaubwürdige Weise erneuert haben, gerät der Pop-Titan wieder ins Zwielicht. Der Film legt nahe, dass der Superstar, der eine unvorstellbar schlimme Kindheit erlitten hatte, der sich später als ewiges Kind inszenierte, dass diese merkwürdige, fragile Erscheinung selbst ein übler Täter war, der über Jahre systematisch Kinder missbrauchte, ein Multimillionär, der sich eine besonders perfide Tarnung zugelegt hatte.

Kann man die Musik einer solchen Type noch guten Gewissens hören? Ein Blick in die Geschichte zeigt schnell, dass Jackson kein Einzel-, sondern ein Dutzendfall ist. Denn diese Geschichte wimmelt von Künstlern, deren Leben gelinde gesagt alles andere als makellos war. Der Maler Caravaggio war ein notorischer Gewalttäter, der einen Mann erschlug. Der Komponist Gesualdo stellte seiner Frau und ihrem Liebhaber eine Falle und ließ beide umbringen. Richard Wagner war nicht nur ein Opportunist, sondern ein abscheulicher Antisemit. Bertolt Brechts Frauenbeziehungen wären heute gewiss Thema für die #meToo-Debatte. Der Dichter Ezra Pound war ein glühender Verehrer von Mussolini und Faschismus, der Schöpfer von „Alice im Wunderland“, Lewis Carroll, ist wegen seiner Fotos von nackten Mädchen in Verruf gekommen, und der Kaffeehausliterat Peter Altenberg dürfte pädophilen Neigungen nachgegangen sein. Eine kranke Neigung, die Adolf Loos vor Gericht brachte. Ein mutmaßlicher Vergewaltiger wie der Regisseur Roman Polanskiverschanzt sich seit Jahren in Frankreich vor dem Zugriff der US-Justiz, seinem Kollegen Woody Allen wird ebenso Missbrauch vorgeworfen wie Schauspieler Kevin Spacey. Es gäbe noch viele weitere Beispiele für fragwürdiges bis verbrecherisches Verhalten von Künstlern. Übrigens, vergessen wir das nicht, es handelt sich dabei ausschließlich um Männer.

Trennung von Künstler und Werk

Was tun also mit dieser Kunst, die uns angesichts des Lebenswandels dieser Männer Unbehagen bereitet? Soll man sie meiden? Verbieten? Sie mit Hinweisen versehen, dass die Künstler dahinter sich unakzeptabel verhalten haben? Keine dieser Fragen ist ernsthaft zu bejahen. Künstler und Werk sind strikt voneinander getrennt zu halten. Weil Künstler und Werk eben nicht ident sind. Nur in juristischer Hinsicht ist der Künstler auch Besitzer des Werks. In ästhetischer Hinsicht verliert er diesen Besitz, sobald er das Werk in die Welt entlässt. Es führt danach ein Eigenleben, wird autonom. Die 9. Symphonie von Beethoven entsteht erst im Hörer, ebenso wie erst die Betrachter ein Rembrandt-Gemälde zur Kunst erheben. Kunst braucht Rezipienten, um überhaupt zu sein. Solange diese Werke von fragwürdigen Menschen stammen, aber selbst nicht verbrecherisch sind, solange ein Werk nicht hetzerisch oder menschenverachtend ist, bleibt es intakt. Selbst die biederen, ungelenken Zeichnungen und Malereien eines Adolf Hitler sind in erster Linie einfach – schlechte Kunst.

Natürlich, vergessen wir auch das nie: Kunst ist keineswegs eine Entschuldigung für die Taten, die ihre Schöpfer begangen haben. Dass Roman Polanski einige der eindrucksvollsten Filme des 20. Jahrhunderts inszeniert hat, macht den Skandal, dass er sich erfolgreich der Strafverfolgung entziehen kann, nicht geringer.
Aber so wie die Kunst keine Entschuldigung ist, wird sie von ihren Schöpfern nicht kompromittiert. Weil sie eben autonom ist. Selbstredend kann man niemanden verpflichten, sich Kunst zu Gemüte zu führen, deren Schöpfer man mit guten Gründen ablehnt. Jedem bleibt die Entscheidung darüber überlassen, noch einen Song von Michael Jackson hören zu wollen. Diese Ablehnung ist nachvollziehbar, sie ist gerechtfertigt. Aber wer sich so entscheidet, hat nicht das Recht, von anderen das gleiche zu verlangen.



Letzteres gilt auch dann, wenn dem Betreffenden dadurch Unannehmlichkeiten entstehen. Solche ergeben sich etwa durch das Phänomen des öffentlich-rechtlichen Rundfunks und seiner Pflichtgebühren: Auch der, der Jacksons Musik nicht mehr hören kann, finanziert ungewollt Sender, die seine Musik spielen. Eine Ungerechtigkeit, die näher besehen keine ist: Nicht die persönlichen Abneigungen (so begründet diese sein mögen) dürfen hier die Richtschnur sein. Man ist kein Konsument, der immer recht hat, und nach dessen Bedürfnissen sich andere zu richten haben. Man ist Teil einer Gesellschaft, in der es Dinge gibt, die einem nicht passen. Wo Argumente abgewogen werden, das Für und Wider besprochen werden kann. Wo man Teil eines stetigen Prozesses ist und nicht isoliertes Individuum. Wer sich auf sein verletztes Gefühl beruft, liegt wahrscheinlich schon falsch. Teil einer Gesellschaft zu sein, bedeutet eben auch, ihre Kränkungen zu ertragen. Und solange die Kunst im obigen Sinne intakt ist, so lange lässt sich keine Forderung und kein Verbot daraus ableiten.

Es liegt im Wesen einer demokratischen Gesellschaft, dass Vorstellungen revidiert werden. Es ist deshalb denkbar, dass eine überwältigende Mehrheit an Personen zur Einsicht käme, dass auch Werke für die Verfehlungen und Verbrechen ihrer Schöpfer haftbar zu machen sind. Eine Übereinkunft, dass die Zumutung für zwangsbeglückte Hörer schwerer wiegt, als die Autonomie der Kunst. Und es gibt Tendenzen in der modernen Kulturwissenschaft, die solche Denkmuster abbilden. Der Schreiber dieser Zeilen hielte eine solche Übereinkunft zwar für grundfalsch, aber müsste sich eben dann ebenso damit abfinden, dass die Gesellschaft seine individuellen Wünsche und Wertvorstellungen übergeht.

Wider die Zensur

Doch er müsste nicht aufhören, dagegen zu opponieren. Denn eine solche rigorose Moral wäre für Kunst und ihre Freiheit fatal. Eine Kunstauffassung, die einem Reinheitsgebot folgt, die nicht nur kriminelle Künstler, sondern auch deren Werke verfemt, beruht nicht nur auf einem Missverständnis, sie wäre der Beginn der Zensur. Schon werden Stimmen laut, man möge barocke Gemälde, die Gewalt gegen Frauen zeigen, abhängen. Dabei übersieht man, dass Kunst nicht nur das Transportmittel des Wahren, Guten, Schönen ist, geschaffen zur allgemeinen Erbauung. Sie wird nicht ausschließlich von hehren Geistern und moralisch gefestigten Charakteren verfasst. Sie kommt manchmal eben auch aus den dunkelsten Ecken des Menschseins, sie führt manchmal auch schnurstracks in die Hölle. Es ist beinahe lächerlich 150 Jahre nach Charles Baudelaires Gedichtband „Die Blumen des Bösen“ noch darauf hinweisen zu müssen, dass das Niedere, das Hässliche, das Verstörende einen fixen Platz in Kunstwerken hat. Kunst ist keine nette Ablenkung, sie lässt uns über die Komplexität der Welt nachdenken, über die unendlich reichhaltigen Facetten des Menschseins, über Werte, über Wünsche, über Würde, über Abgründe. Sie ist ein Moment der Wahrhaftigkeit, der uns auch darüber nachdenken lässt, warum böse Menschen genial sein können. Die Kunst säubern zu wollen, hieße, ihr Wesen zu verkennen.