Zu weiß und zu männlich: In den letzten Jahren mussten die Grammy Awards viel Kritik einstecken. Bei der Verleihung 2018 gewann mit Alessia Cara nur eine einzige Frau einen der Hauptpreise. Als dann auch noch Neil Portnow, Präsident der Recording Academy, diese Entscheidung mit der Aussage verteidigte, dass sich Frauen „eben mehr ins Zeug legen müssten“, um in der Musikbranche erfolgreich zu sein, war der Ärger perfekt.

Durch eine Aufstockung der Nominierungen sollen Musikerinnen heuer bessere Chancen auf eine Auszeichnung haben: Im Dezember des Vorjahres wurden nämlich zum ersten Mal in der Geschichte der Grammy Awards acht anstelle von fünf Künstlern in den wichtigsten Kategorien (Album, Platte, Song und bester Künstler des Jahres) nominiert. „Das schafft mehr Möglichkeiten für eine breitere Auswahl“, erklärte Portnow. Was die Maßnahme tatsächlich gebracht hat, wird sich heute Abend zeigen. Mit dem Rapper Kendrick Lamar (acht Nominierungen) ist der Favorit jedenfalls auch in diesem Jahr wieder ein Mann. Dicht auf den Fersen ist ihm (mit sechs Nominierungen) jedoch Brandi Carlile, eine amerikanische Countryrock-Sängerin, die auf erfrischend rebellische Weise aus der Reihe tanzt.

Carlile wirft sich lieber in Anzüge als in enge Outfits und posiert gerne einmal als die legendäre Rockröhre Patti Smith. Im Rennen um die Grammys lässt sie die Konkurrenz aus der Mainstream-Ecke, die zuweilen eher auf nackte Haut als auf Talent setzt, hinter sich.
Eine Vorreiterrolle nimmt die zweifache Mutter auch in Bezug auf ihr Engagement für die Anliegen von Homosexuellen ein: 2002 outete sie sich als lesbisch, seit 2012 ist sie mit der Engländerin Catherine Shepherd verheiratet.

In einem Interview mit der „Variety“ offenbarte sie vor Kurzem, dass ihr neues Album „By the Way, I Forgive You“ auch dem Kampf gegen Homophobie gewidmet sei. „Es hat sich ein neues Bewusstsein im Land verbreitet“, erklärte die 37-jährige Amerikanerin. „Der Erfolg des Albums hat aber weniger damit zu tun, was wir tatsächlich sagen, sondern damit, dass die Welt jetzt bereit dafür ist“, meinte sie. „Eine Platte, die mit der Absicht von Verzeihen, Aussöhnung und Erlösung geschrieben wurde, wird in einer Weise angenommen, wie es vor der Wahl so wohl nicht passiert wäre.“

Aufgenommen wurde der Silberling im historischen RCA Studio in Nashville. Die zehn neuen Songs wurden allesamt von Carlile und ihren Langzeit-Bandkollegen Tim und Phil Hanseroth geschrieben. Gemeinsam mit den beiden Brüdern hat die Musikerin vor mittlerweile zwölf Jahren auch schon die Rockballade „The Story“ veröffentlicht, mit der sie dank der Fernsehserie „Grey’s Anatomy“ 2007 ihren Durchbruch schaffte.

Im Gespräch mit dem „Rolling Stone“ äußerte sie sich zur Wiederauferstehung von Protestmusik. „Eine Zeit lang war diese Musik im Schlafmodus“, so die Sängerin. Angehörige einer Minderheit, egal ob durch ihre Herkunft oder ihre Sexualität bedingt, sind für sie die Bob Dylans und Buffy Saint-Maries von heute: „Mit ihnen unter den Nominierten zu sein, weil ich mich emotional geöffnet habe, ist eine Ehre.“ Was ihren Musikstil betrifft, will sie sich nicht in eine bestimmte Schublade zwängen lassen. „All diese Kategorien sind nur Grenzen und Mauern. Weder mit dem einen noch mit dem anderen kann ich etwas anfangen“, betonte sie gegenüber der „Variety“.

Moderiert wird die Grammy- Verleihung übrigens von US-Popdiva Alicia Keys, die selbst schon 15 Exemplare des wichtigen Musikpreises entgegengenommen hat. „Ich weiß, was es bedeutet, auf der Bühne zu stehen, und ich werde diese Stimmung und diese Energie mitbringen“, sagte Keys am Dienstag laut Mitteilung der Recording Academy. Sie sei „besonders begeistert von all den unglaublichen Frauen, die in diesem Jahr nominiert sind“.