Es könnte der Lieblingswitz eines Misanthropen sein: Was macht der Mensch, gleich nachdem er etwas erfunden hat? Na, er fürchtet sich. Das mag ein wenig ungerecht sein, aber grundfalsch ist es nicht. Der Mensch und sein Erfindungsdrang: Das ist Fortschritt und Zukunft, aber immer auch die Frage: Werden Grenzen überschritten? Oder noch früher: Wer definiert überhaupt die Grenzen? Ist es die Moral oder ist es gar die Wirtschaft? Das bringt den Menschen oder, mehr noch, ganze Gesellschaften in Erklärungsnotstand, denn selten noch wurde die Grenze vor der Erfindung gezogen. Grenzziehung findet in aller Regel auf Trümmerhaufen statt.

Der menschlichen Fantasie ist es zu verdanken, dass sich der Mensch hier einen Ausweg freischaufelt: ein Monster erfinden. Das befreit den Menschen von seiner dringlichsten Sorge - auf der falschen Seite zu stehen. Das Monster. Dunkel, primitiv, seinen Instinkten folgend, eine ewige Bedrohung. Es gibt sie, diese Prototypen des Bösen, die wie auf Knopfdruck das Instinktprogramm „Gefahr“ in Bewegung setzen. Doch lassen wir uns nicht täuschen! Es ist nichts anderes als ein „Blame Game“, in dem man dem Falschen die Schuld in die Schuhe schiebt. Das Monster, ein Monster? Nicht unbedingt.

Wir schreiben das Jahr 1816, eine illustre Gesellschaft am Genfer See. Darunter das Ehepaar Percy und Mary Shelley sowie der Dichter Lord Byron. Die Kulisse hätte sonnig sein können, aber die Natur hat sich für das Set „Dunkle Romantik“ entschieden. Am anderen Ende der Welt: Ein Vulkanausbruch ein Jahr zuvor lässt das globale Wetter verrückt spielen. Die Gesellschaft, sie langweilt sich. Zur Erheiterung ein Spiel, man will sich gruseln. Es ist der Vorabend des viktorianischen Zeitalters, gut möglich, dass eine Gänsehaut schon die Vorstufe sexueller Erregung ist. Man schreibt also Schauergeschichten, eine davon wird auch Geschichte schreiben.

In der Erzählung „Frankenstein oder Der moderne Prometheus“ erweckt Mary Shelley ihn zum Leben, diesen Viktor Frankenstein. Ein Chemiestudent, der in seinem Labor einer Kreatur ins Leben verhilft. Der göttliche Funke, hervorgerufen durch ein Stromexperiment. Der Erfinder im kurzfristigen Freudentaumel. Heute würde man sagen: ein Larger-than-life-Moment. Doch die Hybris, die ist schnell verschwunden. Denn die Erfindung ist alles andere als ein Titan. Er ist ein zweibeiniger Kaltblüter, hässlich und unbeholfen. Eine Beleidigung für den Menschen, der sich doch als göttliches Wesen begreift. Nur einer hätte hier gejubelt, einer, der knapp über 100 Jahre zuvor am Genfer See das Licht der Welt erblickte: Jean-Jacques Rousseau. Ein Wesen, ein noch unbeschriebenes Blatt, so gänzlich unverdorben und unschuldig!

Doch der Erfinder, er fühlt sich gekränkt, und plötzlich wird er ganz klein, der Mensch, es fehlt ihm die Größe, sein Projekt zum Blühen zu bringen. Wie ein Spielzeug, das nicht gefällt, lässt er die Kreatur fallen. Ausgestoßen und zurückgesetzt schlägt die Kreatur, das Wort „Monster“ kommt in der Erzählung gar nicht vor, um sich und wird zum Berserker. Der Philosoph Thomas Hobbes würde hier wohl einwenden: Siehst du, Rousseau! Wie ich sagte: Nur die zivilisierende Wirkung der Gesellschaft macht das Monster zum Menschen. Und so wird eine scheinbar einfache und vielfach verfilmte Schauergeschichte zur Gesellschaftskritik, die vielleicht noch nie so aktuell war wie heute: Die Gesellschaft, die den Einzelnen, seine Einzigartigkeit als Individuum nicht anerkennt und ihn ausgrenzt.

Die Erzählung kann aber auch als Diagnose gelesen werden: Der Mensch leidet an einer Wechselwirkung. Diese setzt sich zusammen aus der glühenden Begeisterung für das Neue und der Angst vor der Unkontrollierbarkeit der menschlichen Erfindungen. Seit Jahren geistert das Wort „Superintelligenz“ durch die Welt. Eine vom Menschen geschaffene künstliche Intelligenz (KI), die ihren Schöpfer überflügelt. Und was macht der Mensch? Er schreit: „Monster!“ Noch ist es Theorie - denken wir zumindest. Doch die moralische Diskussion darüber, die wird vor allem nach Streamingserien, wie etwa „Black Mirror, geführt, die diese Themen aufgreifen. Wir merken uns: Roboter scheinen noch nicht den finalen Sprung von „Raumschiff Enterprise“ in die Realität geschafft zu haben. Erstaunlich, wo doch Roboter in den nächsten Jahrzehnten unser Leben maßgeblich beeinflussen werden. Haben Roboter nicht nur Pflichten, sondern auch Rechte? Wie gut, dass schon 1942 der Science-Fiction-Autor Isaac Asimov seine Robotergesetze erdacht hat. Somit können wir noch ein paar Jahre mehr über die Digitalsteuer für Konzerne debattieren. Böse Zungen würden behaupten: Jetzt ist es aber an der Zeit, dass einige Herrschaften vom Spielen am Holodeck herunterkommen.

Wie aktuell Mary Shelleys Roman ist, zeigte sich Ende November, als bekannt wurde, dass chinesische Forscher mithilfe der Gen-Scheren-Methode erstmals die Keimbahn eines Menschen verändert haben. Sind das Frankensteins Erben, die hier ohne Rücksicht auf Verluste nur ihrem Forscherdrang nachgeben? Oder ist es vielleicht auch der unausgesprochene Wunsch einer Gesellschaft, die hier kein Zurück mehr kennt, mehr kennen will? Gruselig? Ziemlich sicher sogar. Wie gut, dass es ein altbewährtes Rezept gibt, um das Monster zu erkennen: Licht aufdrehen und in den Spiegel schauen. Keine Garantie, dass man danach auch gut schläft.