Sie werden am 21. Dezember 70 Jahre alt. Drehen wir das Rad der Zeit 70 Jahre zurück. Wo sind wir dann gelandet?
WILLI RESETARITS: Die ganz frühe Kindheit ist ja nicht erinnerlich, das ist naturgemäß eine Geschichte aus zweiter Hand. Anfangen möchte ich zwei Monate vor meiner Geburt. Da hätte ich das erste Mal sterben können. Inside my mother, sozusagen. Also im Mutterleib.

Was ist passiert?
WILLI RESETARITS: Kalt war’s im Oktober 1948, also zwei Monate vor meiner Geburt. Meine Eltern und andere Arbeiter wurden in einem Pendler-Lkw vom Wechsel nach Hause gebracht, nach Stinatz. Auf der alten Bundesstraße haben dann die Bremsen am Lkw versagt, der Wagen ist im Graben gelandet. Meine Mutter und meinen Vaters hat’s aus dem Auto geschleudert, aber ein Apfelbaum hat die Wucht des Aufpralls abgefedert. Die meisten im Lkw sind gestorben, aber meine Eltern haben überlebt. Damit war klar, dass ich derjenige bin, der immer Glück haben wird im Leben.

Wie war diese Kindheit, welche Bilder tauchen auf?
WILLI RESETARITS: Geboren bei Petroleumlicht in Stinatz, Hauptstraße 13. Dort, im Südburgenland, haben wir natürlich Kroatisch gesprochen. Im Alter von drei Jahren sind wir nach Wien, in den 10. Bezirk. Das hat bedeutet: Deutsch lernen, sofort, weil in Wien durfte man nicht mehr Stinatzer Kroatisch sprechen. Stinatz, die Verwandten dort, blieb aber Heimat für uns Kinder. Aber innerhalb von zehn Jahren sind wir Resetarits-Brüder echte Wiener Straßenbuam geworden. Wir hatten also zwei Existenzen.

Willi Resetarits
Willi Resetarits © APA/HANS KLAUS TECHT (HANS KLAUS TECHT)

Wie ist es den burgenland-kroatischen Buben in der Wiener Schule ergangen?
WILLI RESETARITS: Eigentlich gut. Weil: Damals waren noch Sozialdemokraten, wenn nicht sogar Kommunisten, im Schulsystem tonangebend, vor allem in diesem Arbeiterbezirk. Die haben Antisemitismus, Fremdenhass und Minderheitenbashing nicht zugelassen. Das war für mich natürlich gut, weil ich ein sehr schüchternes Kind war. Aber natürlich hat es auch alte Nazis gegeben, die „Krowoten raus“ gebrüllt haben, wenn sie besoffen waren. Diese braune Geisteshaltung ist ja bis tief in die 60er-Jahre weitergegangen.

Bleiben wir auf unserer Zeitreise gleich in den 60er-Jahren.
WILLI RESETARITS: Inzwischen haben wir, also die Eltern, gebaut. Dort, wo ich heute noch wohne. Die Konjunktur hat auch für uns zarte Blüten gezeigt. Arm sein ist nicht ganz so schlimm, wenn alle anderen auch arm sind. Und es ist noch leichter erträglich, wenn es jedes Jahr ein bissl heller wird. Kleine Schritte waren das. Ich kann mich noch erinnern, dass es plötzlich, das war an einem Sonntag, Schlagobers gegeben hat. Aber noch keinen Kühlschrank. Aber damals hat die Milchfrau, die Frau Rumetshofer, noch Sonntag in der Früh aufgesperrt. Und so hat auch das Kind gemerkt: Es geht bergauf.

Was war für Sie während dieser Zeit, also in den 60ern, am wichtigsten?
WILLI RESETARITS: Das Auftauchen der Beatmusik. Die Beatles, die Stones, später die Soulmusik. Das Radio war damals meine Hauptsozialisierungsquelle, aber dort haben sie bei uns nur Peter Kraus und Ted Herold gespielt. Aber die Halbstarken im Park, die hatten einen batteriebetriebenen Plattenspieler – und die haben „Tutti Frutti“ von Little Richard gespielt. Das, also die Musik, war der Beginn unserer Politisierung. Ich war also vorbereitet auf die Jahre 1967, 1968, wo man sich dann offen gegen den alten Mief geäußert hat. Wenn man damals als Jugendlicher nur ein bissl anders war – längere Haare, Glockenhosen – war das der Untergang des Abendlandes. Die Maurer sind vom Gerüst gesprungen und uns mit der Schere nachgerannt! Daran hat man den wahren Charakter der Gesellschaft gesehen. Die logische Konsequenz war, dass wir später auch die wichtigen Sachen artikuliert haben – nicht nur Freiheit für lange Haare und laute Musik. Das ist ein Prozess, der für mich bis heute andauert, aber damals hat es begonnen.

Jetzt sind wir bei den „Schmetterlingen“ gelandet, die Gruppe wurde 1969 gegründet.
WILLI RESETARITS: Da bin ich quasi als Beatmusiker zu den Folkloristen gegangen. Die Zeiten, wo die „Folkies“ den Bob Dylan als „Judas“ beschimpft haben, waren Gott sei Dank vorbei. Die Schmetterlinge waren Studenten, also links. Damals waren ja alle links. Die einen, weil sie es so gemeint haben, die anderen, weil sie der Zeitgeist erhascht hat. Wir haben es so gemeint. Wir haben die Lieder der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gesungen, dann eigene Sachen. Wir waren also eine politische Band, die Hoffnung für die österreichische Popmusik waren wir halt nimma. Alle Plattenfirmen haben uns rausgeschmissen. Kurz: Es war uns eine Ehre! Die „Proletenpassion“, erschienen 1977, war der größte Erfolg der Schmetterlinge. Wir waren also sehr bekannt – und sehr gefürchtet. Man hat uns nämlich als gefährlich erachtet. Auch das war uns eine Ehre.

1977 traten die Schmetterlinge beim Song Contest an und erreichten den ehrenvollen vorletzten Platz.
WILLI RESETARITS: Das war eine Episode und ein Schuhlöffel, damit wir Produktionsmittel auftreiben für unser Tonstudio und unsere kleine Plattenfirma. Mit dem Geld haben wir übrigens die „Proletenpassion“ produziert.

Der Willi Resetarits ist ja eine multiple Persönlichkeit im nicht pathologischen Sinn. Springen wir ins Jahr 1985 – da hatte ein gewisser Kurt Ostbahn seinen ersten Auftritt.
WILLI RESETARITS: Der Ostbahnkurti war ja die ersten fünf Jahre, also bis 1990, ein Geheimtipp. Aber plötzlich sind ganz viele Menschen gekommen und die ersten Gold- und Platinplatten.

Welchen Nerv haben Sie und Ostbahn-Erfinder Günter Brödl mit dieser so erfolgreichen Kunst- und später Kultfigur getroffen?
WILLI RESETARITS: Ganz ehrlich? Ich weiß es nicht, warum der Kurtl auf so einer breiten Basis funktioniert hat.

Mit dem Ostbahn ist aus dem linken Polit-Rocker ein Volksheld geworden.
WILLI RESETARITS: Ja, aber es bleibt für mich ein Mysterium. Niemand hat so viel Street Credibility gehabt wie die erfundene Ostbahn-Figur. Was mein Geheimnis betrifft: Ich hab mir nur eine Brille aufgesetzt und gesagt: Griaß euch, i bin der Ostbahn.

Aber der Kurtl hatte doch ein ganz anderes Publikum als der Willi.
WILLI RESETARITS: Nein! Ganz erstaunlich ist – das merke ich erst jetzt wieder, wenn der eigentliche Pensionär Ostbahn seine seltenen Auftritte vor dem Kernpublikum hat –, wie viele Menschen mir, also dem Willi Resetarits, durch alle Personifizierungen und Bands gefolgt sind. Und das ist mir eine ganz große Freude.

Dieser Willi Resetarits ist nicht nur Musiker, sondern auch Menschenrechtsaktivist. 1995 haben Sie das Integrationshaus in Wien gegründet, aus welchem aktuellen Anlass heraus?
WILLI RESETARITS: Mitbegründet. Denn alleine richtet der Willi nichts aus, er braucht eine Bande. Ich war der Prominente, der das Gesicht hergehalten hat. Aber das hat mir nicht genügt. Ich hab gesagt: Wenn ich schon das Gesicht herhalte, will ich auch inhaltlich mitreden. „Flüchtlingstechnisch“ tätig war ich schon nach der Iran-Revolution, das Integrationshaus ist dann aus den Nachwehen des Jugoslawienkrieges entstanden. Die Flüchtlinge von dort fanden zuerst Aufnahme in riesigen Hallen, die Quartiere waren nur mit Leintüchern abgeteilt. Dort mussten also diese kriegstraumatisierten Menschen bleiben und wurden retraumatisiert, weil sie keine Privatsphäre hatten. Und das war die Grundidee für das Integrationshaus: dass man Wohneinheiten schafft, wie klein auch immer, die von innen zum Zusperren sind und eine Kochstelle haben. Wir haben also das Grundbedürfnis nach Intimsphäre gestillt – und das ist bis heute so geblieben. Jetzt sind hauptsächlich Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan bei uns im Haus. Menschen also, die trotz gelungener Integration gerne abgeschoben werden.

Das muss zur Frage führen, wie es Ihnen mit der aktuellen österreichischen Regierung geht?
WILLI RESETARITS: Man muss etwas tun, sich zu Wort melden. Als Einzelner und im Verband. Man muss Präsenz zeigen. Man muss darüber hinaus nachdenken.

Worüber genau?
WILLI RESETARITS: Ich meine, dass es gilt, die Demokratie zu verteidigen – sie wird nämlich gerade ausgehöhlt. Da muss die Bevölkerung aufstehen und sagen: Das wollen wir nicht! Aber ich fürchte, die Zeit arbeitet gegen uns. Ich möchte Ihnen eine kurze Geschichte erzählen: Vor Jahrzehnten hat sich bei meinem Vater, er war damals Bauleiter, ein Mann gemeldet, der Arbeit wollte. Und dieser Mann hat zum Vater gesagt: „Herr Baumoasta, mauern kaun i net, aber im O’reißn bin i a Hund.“ Das ist genau das, was im Moment politisch in diesem Land passiert. Es wird nichts aufgebaut, es wird nur zerstört.

Eine neue Biografie über Sie trägt den Titel: „Ich lebe gerne, denn sonst wäre ich tot“.
WILLI RESETARITS: Früher, meine Onkel oder ein Großvater zum Beispiel, sind die Menschen mit 65 in Pension gegangen, vollkommen abgearbeitet, und mit 66 waren sie tot. Andere haben nicht einmal die Pension erlebt. Ich bin schon älter als 65. Und ich bin so froh, dass ich nicht tot bin.

Angst vor dem Tod?
WILLI RESETARITS: Nein! Ich habe schon drei, vier Leben gelebt und so viel Glück gehabt. Wenn es Zeit ist, trete ich ab. Ich werde mir das Leben nicht dadurch schwer machen, davor Angst zu haben. Schauen S’, so viele Menschen leben wohlhabend in diesem wunderschönen, reichen Land. Und was tun sie den ganzen Tag: sudern, sudern, sudern.

Im Jänner 2019 feiern Sie nachträglich Ihren 70er mit zwei Konzerten in der Wiener Stadthalle. Wie kam es dazu?
WILLI RESETARITS: Bis jetzt habe ich immer nach vorne geblickt. Jetzt habe ich beschlossen, das erste Mal in meinem Leben zurückzuschauen. Und da wollte ich, dass mein Publikum und ich Geburtstag feiern mit nahezu allen Bands, mit denen ich in den letzten 50 Jahren gespielt habe. Wobei: Statt „Bands“ sage ich viel lieber „Banden“. Als Kinder haben wir ja immer Banden gehabt. Vielleicht werde ich im Alter wieder kindlich. Ist auch schön.

Glück ist ein großes Wort, aber es sei zum Abschluss erlaubt: Sind Sie ein glücklicher Mensch?
WILLI RESETARITS: Ich habe eine große Lebensfreude. Und, ja: Ich glaube, ich bin glücklich. Das ist auch der letzte Satz meiner Biografie.