Den Anfang können wir uns schenken. Frau Schaschlik aus dem zweiten Stock behauptete, Fuchsspuren im frischen Schnee bei den Mülltonnen entdeckt zu haben, und alle fragten sich, woher sie Fuchs- von anderen, beispielsweise Hundespuren, unterscheiden könnte, aber keinem fiel auf, dass es gar nicht geschneit hatte. Deshalb lohnt es sich nicht, den Fuchs zu erwähnen und auch nicht die anderen Lügen, die in diesem Haus erzählt werden.

Am späten Vormittag fährt Blanka vom 22. Stock hinunter zum Supermarkt ins Erdgeschoss, kauft die Sonderausgabe von MEIN SCHICKSAL, und als sie zurück ist, steht diese Person vor ihrer Tür, also nicht direkt davor, sondern im Niemandsland zwischen Tür 63 und 64. Beiger Ganzkörperanzug, kugelförmiger, rostiger Helm mit großem Bullauge vorn und zwei kleineren bei den Ohren, Flossen an den Füßen. Ein Taucher.

Blanka kramt nach dem Schlüssel, ihre Hand zittert. Der Taucher schraubt seinen Helm ab, wie man ein Glas mit eingelegten Zwiebeln öffnet.

„Ich möchte mit Ihnen über das Atmen unter Wasser sprechen.“

„Keine Zeit“, sagt Blanka.

Sie schlüpft in die Wohnung, schließt die Tür, drückt das Ohr an das Türblatt, das so warm ist, als hätte vor ihr ein anderer gelauscht. Blanka hat ein feines Gehör, sie bekommt alles mit, was in diesem Haus passiert. Wenn ein Adventkalendertürchen geöffnet und schon das dritte Mal hintereinander eine herzförmige Gästeseife rausgeholt wird, die nach WC-Kugel riecht. Wenn mit wackeliger Schrift Briefe an das Christkind verfasst werden, unmäßige Wünsche, die in den kommenden Tagen schrumpfen, bis sie hauchdünn sind und durch den Spalt im Fensterrahmen passen. Wenn Lichterketten mit erschöpft glimmenden LEDs entwirrt und um Vorhangstangen drapiert werden.

Als Blanka später mit dem Müllsack in der Hand die Tür öffnet, steht der Taucher immer noch da, den altmodischen Helm wie einen Reservekopf unter den Arm geklemmt.

„Komm rein“, sagt sie und hat schon wieder vergessen, was sie draußen wollte. Der Taucher zieht die Flossen von den Füßen und legt sie zu ihren Schuhen dazu, die jetzt lächerlich klein aussehen.

„Ich brauche einen Eimer“, sagt er, „und warmes Wasser.“

Blanka wundert sich nicht, sie hat sich oft genug gewundert, irgendwann ist das Reservoir gefüllt. Manchmal vergisst sie, dass es anderen nicht so geht.

Gestern rief sie wieder bei der Hotline für vermisste Kinder an.

„Seit wann vermissen Sie Ihr Kind?“
„Schon viele Jahre.“
„Und was haben Sie bisher unternommen?“
„Nichts.“
„Wie bitte?“

Hier folgt üblicherweise eine Pause. Eine Minute. Ein Jahr. Ein Leben. Am Ende kommt raus, dass sie gar kein Kind hat. Was nichts Besonderes ist, sie hat ja auch viele andere Dinge nicht. Sie hat bereits überlegt, ihr Leben aufzuschreiben und an MEIN SCHICKSAL zu senden, aber weil zu wenig schicksalhafte Wendungen darin vorkommen, lässt sie es bleiben. Wenn es abgedruckt werden soll, müsste sie eine Handvoll Füchse einfügen, dunkle Familiengeheimnisse oder spurlos verschwundene Kinder.

Der Taucher sitzt breitbeinig auf der Couch, vor sich den Eimer mit Wasser.

„Sie fangen am besten langsam an und tauchen morgens und abends das Gesicht ins Wasser. So.“ Er macht es vor.

„Warum?“

„Weil das Wasser kommen und alles überschwemmen wird. Ich bereite mich und andere auf die große Welle vor.“

„Aber wir sind im zweiundzwanzigsten Stock.“

Er zuckt mit den Schultern. „Man weiß nie.“

Das kann Blanka unterschreiben. Seit Prinzessin Dianas Unfall wird auf dem Landsitz Sandringham, wo die Royals Weihnachten feiern, jedes Jahr ein in Goldpapier verpacktes Geschenk unter den Baum gelegt und nach der Bescherung an einem geheimen Ort deponiert. Möglicherweise hat Diana ihren Tod nämlich nur vorgetäuscht, damit sie in Frieden leben kann, und steht irgendwann vor der Tür, um ihre Enkel kennenzulernen. In so einem Fall bekommt sie alle Geschenke seit 1996 auf einmal.

Blanka taucht ihr Gesicht vorsichtig ins Wasser und gleich wieder auf.
„Und jetzt?“ Sie wischt die Augen mit dem Zipfel ihrer Bluse trocken.

„Wirft man einen Säugling ins Wasser, verschließt sich dessen Luftröhre und der Herzschlag verlangsamt sich. So verbraucht er weniger Sauerstoff. Das können wir wieder lernen, wenn wir regelmäßig üben.“

„Ich nicht mehr“, sagt Blanka.

Der Taucher zieht eine CD aus einer verborgenen Tasche seines Anzugs. Meditationen für das Leben unter Wasser.

„Heute nur neunzehnneunzig, Weihnachtsaktion.“

Blanka schiebt ihm einen Teller mit blassen Keksen hin. „Nimm ruhig.“

Er greift nach einem Keks, beißt vorsichtig ab. Alles, was er tut, macht er behutsam, das gefällt ihr.

„Versuchen Sie es noch einmal“, sagt er.

Also beugt sie sich über den Eimer, holt tief Luft, steckt den Kopf unter Wasser, muss innerlich lachen über ihren Übermut, befiehlt ihrem Herzen, im Säuglingsrhythmus zu schlagen, aber es schlägt schnell und schneller, lässt sich nichts befehlen, rast, fliegt. Eine lange Zeitspanne vergeht oder gar keine Zeit, was weiß man schon.
Sie taucht auf, füllt ihre Lungen mit Luft. Eine Stimme von weit her. Augen auf, alles nass, Bluse, Rock, Spannteppich, egal. Die Kekse sind aufgegessen, der Helm aufgeschraubt, die Flossen an den Füßen.

Vorweihnachtszeit, sagt er. Ein Termin jage den nächsten. Die CD lasse er da.

Sie begleitet ihn raus, grinst, als sie am Spiegel vorbeikommt. Wenn Frau Schaschlik das nächste Mal behauptet, einen Fuchs gesehen zu haben, kann Blanka sagen: Ich hatte Besuch von einem Taucher. Die Worte liegen vorn auf der Zungenspitze, sie werden ihr von ganz allein aus dem Mund fallen. Besuch. Taucher. Du träumst, Blanka, werden sie sagen und die Augenbrauen hochziehen, sie werden tuscheln, über sie herziehen, ihr nicht glauben, natürlich nicht, bei all den Lügen, die in diesem Haus erzählt werden. Geschenkt.