In vielen Mythologien trägt eine Schildkröte die Welt, in "Totem" trägt sie turnende Frösche, die sich einem Mann im reflektierenden Anzug wie der Sonne zuwenden. Mythen und die Evolution sollen in der seit 2010 aufgeführten Show im Mittelpunkt stehen. Das kanadische Zirkusunternehmen interpretiert das Thema vor allem mit Affen, Urmenschen und Ureinwohnern. Die Evolution rückt jedoch schnell in den Hintergrund.

Doch auch ohne das Rahmenthema sind die Zirkusnummern spannend anzusehen: Zwei Männer im Froschanzug schwingen von Reck zu Reck, verfehlen ihr Ziel nie und kreisen manchmal sogar auf derselben Stange umeinander. An anderer Stelle umtanzt sich ein Pärchen in anfänglicher Scheuheit voreinander in der Luft und beweist dabei nahezu übermenschliche Körperspannung und Kraft, ohne je angestrengt auszusehen. Momente wie diese reihen sich bei der zweistündigen Show-Premiere in Paris nahezu nahtlos aneinander. Fast genauso beeindruckend sind die aufwendigen Bühnenbilder und die Technik, die die Kunststücke erst möglich machen - so ist eine Hydraulikrampe Teil des Sets, die sich wahlweise in das Boot eines lustigen, machohaften italienischen Clowns verwandeln oder Frösche gebären kann.

Um Menschen zu finden, die diese Kunststücke vollbringen können, sucht der Cirque seinem Pressesprecher Olivier Fillion Boutin zufolge nach "verrückten Zirkusnummern". Außerdem werde bei Sportweltmeisterschaften nach Artisten gefahndet, genauso wie auf Youtube oder während offener Castings. Auch der professionelle Diabolospieler Nico Pires bewarb sich und ist seit 2017 Teil von "Totem". In seiner Rolle als extravaganter Fährtensucher führt er das Publikum durch die Szenen. Für die Show trainiere er jeden Tag. "Die Darsteller auf der Bühne reagieren auf mich, dadurch bleibt die Arbeit interessant", erzählt er am Tag nach der Premiere in Paris. Pires ist einer von 48 Artisten und insgesamt 118 Menschen, die mit "Totem" derzeit durch Europa reisen. Mit im Gepäck hat der Zirkus außerdem 78 Trucks - laut Fillion Boutin eine "kleine Stadt" - mit eigenen Köchen, Technikern, Tischlern und Physiotherapeuten.

Gänzlich ist der Cirque nicht vor Fehlern gefeit. Als fünf Frauen auf Einrädern sich mit den Füßen Becher auf die Köpfe werfen, gehen schon einmal Schüsse daneben. Viel anmerken ließen sich die Frauen und auch die Musiker im Hintergrund davon nicht. "Hier passieren ab und zu Fehler", erklärt Annette Bauer, unter anderem Flötistin und Darstellerin der Flamenco-Frau in "Totem". Dann müsse die achtköpfige Band improvisieren. "Es ist nicht möglich, immer perfekt zu sein. Man muss nach Fehlern weitermachen können" ist auch der ehemalige Sportler und Russian-Bar-Artist Aliaksei Liubezny überzeugt, der auch schon bei der Cirque-Show "Alegria" dabei war.

Bei aller Exzellenz bleibt der Cirque du Soleil mit seinen Clowns, Ringturnern und Rollschuhläufern immer ganz Zirkus. Und so vermag auch das Mitwirken des kanadischen Regisseurs Robert Lepage "Totem" trotz zahlreicher Anlehnungen an das Thema nicht zum Evolutions-Theater zu machen. Obwohl man so manchen Charakteren - etwa dem Fährtensucher oder dem alten Mann, der Darwin sein könnte - mehrmals begegnet, bleibt doch jeder Akt in sich geschlossen, und aneinandergereiht sinnbefreit. Am Ende ist das aber völlig unwichtig.