Sie haben darüber geschrieben, dass Sie als Jugendliche stur behauptet haben, nicht Skifahren zu wollen, obwohl Sie's gern getan hätten, aber die Eltern kein Geld dafür hatten.
CHRISTINE NÖSTLINGER: Nicht stur, das war schamerfüllt. Die anderen sollten nicht wissen, wie arm wir waren. In der Volksschule gab es noch viele, denen es schlechter ging als mir, aber im Gymnasium spürte ich den Unterschied. Wir haben im Parterre gewohnt, wie die Hausmeister, was ein Schimpfwort war. Da dachte ich mir: Hoppla, dass man im Erdgeschoß wohnt, sagt man besser nicht. Und ich hab dann auch gelogen. Einmal hat mich eine Sitznachbarin, die Eva, heimbegleitet bis zur Haustür. Und da hat sie mich gefragt: ,Wo sind eure Fenster?' Ich hab es nicht zusammengebracht zu sagen, da herunten. Ich habe nach oben gezeigt. Und dann wollte sie wissen, welche Fenster, und da hab ich mir gedacht: auch schon wurscht - und hab auf die ganze Front gezeigt.

Ihre Kindheit haben Sie im Parterre verbracht, heute leben Sie unter dem Dach mit herrlichem Blick über Wien. Fühlen Sie sich freier, je älter Sie werden?
Je älter, je freier? Sicher war ich mit 20, 25 unfreier als mit 40. Aber seither hat sich nicht mehr viel verändert. Als junger Mensch war ich unfrei, gehemmt, auch durch die gesellschaftlichen Zwänge. Es gab keine vernünftige Empfängnisverhütung, man ist irgendwann schwanger geworden, dann hat man geheiratet. Und wenn man so geartet ist wie ich, hatte man das Gefühl, in einer Falle zu sitzen. Krippen- und Kindergartenplätze gab es nicht, so war man notgedrungen Hausfrau. Ich war total geschockt, als in meinem Reisepass plötzlich Hausfrau stand. Am liebsten hätte ich ihn weggeschmissen.

Hängt Ihr Unbehagen auch damit zusammen, dass Ihre Mutter immer ihre Frau stehen und die Familie erhalten musste?
Ja, meine Mutter war immer berufstätig. Sie war Kindergärtnerin. Und es war immer klar bei uns daheim, dass eine Frau einen Beruf zu haben hat.

Sie betonen immer wieder, dass Sie zu Ihrer Mutter keine gute Beziehung hatten, Ihren Vater aber vergötterten. Warum war das so?
Ich habe meinen Vater völlig unobjektiv geliebt. Ich bin eigentlich mit keiner Frau in meiner Familie gut ausgekommen. Weder mit Großmutter, Mutter, Schwester. Großvater, Vater, ich - das war meine Linie. Mein Vater war gescheit, hat mit mir geredet, mich lieb getröstet, wenn ich unglücklich war, aber, und das kann ich im Alter objektiv sagen: Viel geschert um mich hat er sich nicht, wenn es um die Dinge des täglichen Lebens ging. Dass ich mit meiner Mutter so schlecht ausgekommen bin, daran war eigentlich er schuld. Er war nicht gut mit ihr verheiratet und hat mir in allem recht gegeben. Und so bin ich mir vorgekommen wie die verwunschene Prinzessin, die mit dem verwunschenen Prinzen, meinem Papa, bei der bösen Königin lebt.

Ihr Vater war zwischen 1939 und 1945 nur eine Woche auf Heimaturlaub.
In der Woche haben's geheiratet. Dass ich so eine starke Bindung zu ihm habe, hat ja damit zu tun, dass ich als Baby nur bei ihm war. Mein Vater, ein Uhrmacher, war arbeitslos, meine Mutter hat gearbeitet. Er hat mich Tag und Nacht betreut. Und dann war ich drei Jahre alt und er musste in den Krieg und wahrscheinlich war es schrecklich für mich, dass er plötzlich über Jahre weg war.

Sie haben rund 150 Kinderbücher geschrieben: War das auch ein Rekapitulieren Ihrer eigenen Kindheit?
Das ist wohl notgedrungen so, wenn man Kinderbücher schreibt.

Sie haben öfter schon erklärt, dass Sie nicht alle Kinder mögen.
Warum wundern sich die Menschen darüber? So geht es doch jedem! Den Menschen möchte ich sehen, der alle Kinder mag. Es gibt eben unangenehme Kinder. Ein Ungustl wird ja nicht erst mit 18 zum Ungustl. Das ist ja eine lange Entwicklung. Aber ich rufe mich zur Ordnung, wenn mir so ein Kind begegnet, und sage mir: Dieser arme Wurm kann ja nix dafür. Entweder war es die Erbmasse oder die Erziehung.

Sie haben zwei Töchter, Sie haben zwei Enkerl - hat sich Kindheit sehr verändert?
Ja, schon. Aber andererseits haben Kinder immer noch die drei gleichen Probleme: die Schule, die Freunde, die Liebe. Aber die Ausstattung ist eine andere. Es fällt mir schwer, über die Kinder im Allgemeinen zu reden. Denn es ist wie Tag und Nacht, je nachdem, in welcher Schicht ein Kind heute aufwächst. Einem Kind von einem Paar mit gehöriger Bildung und gehörigem Einkommen, dem geht es herrlich. Kein Vergleich mit einem Kind einer Alleinerzieherin, die irgendwo im Supermarkt an der Kasse sitzt und in der Großfeldsiedlung wohnt.

War der Beruf Autorin eine Möglichkeit, sich viel von der Seele zu schreiben?
Nein, ein inneres Bedürfnis war mir Schreiben nie. Ich habe damit begonnen, weil ich einen Text für die Bilder brauchte, die ich gezeichnet hatte. Das war mein erster Schreibversuch. Hätte es nicht geklappt, hätte ich es gelassen. Aber es hat funktioniert und ich war fasziniert, dass ich irgendetwas kann, weil ich mich damals als Nur-Hausfrau in einem Zustand von Bin-nix-kann-nix befand.

Dafür ist die Ausbeute nicht schlecht! Gibt es ein Lieblingsbuch unter Ihren eigenen?
Ich finde es schon gut, dass ich mit „Rosa Riedl“ das erste Arbeitergespenst erfunden habe, und den „Hugo“, das uralte Kind, das eine Kindergewerkschaft gründet. Das ist geglückt.

Die Sozialdemokratin steckt tief in Ihnen. Waren Sie nie unsicher, ob die Sozialdemokratie noch das Richtige ist?
Aber ich bin doch ununterbrochen unsicher! Aber an was soll ich heute noch glauben? Eigentlich an gar nix mehr.

Wieso nicht?
Na, schauen Sie sich doch die Welt an! Alles nicht sehr erfreulich. Die politischen Zustände in Europa, dieser schreckliche Rutsch nach rechts.

Worauf führen Sie den zurück?
Wenn ich das wüsste! Es hat gewiss etwas mit dem Turbokapitalismus zu tun, dass sich Menschen abgehängt fühlen, sich hint' und vorn nicht mehr auskennen und deshalb jemanden suchen, der ihnen einfache Lösungen anbietet, selbst wenn's die falschen sind. Das erklärt aber auch nicht alles.

Was also noch?
Es ist ein statistisch belegtes Phänomen, dass die Fremdenfeindlichkeit dort am größten ist, wo es die wenigsten Fremden gibt. Siehe deutsche Bundesländer im Osten, die haben knapp zwei Prozent Fremde. Kein Grund für echte Ängste! Ich kann mich noch an Zeiten erinnern, ich war so 17 Jahre alt und ging in die Tanzschule: Damals hat sich mehr als die Hälfte unserer Tanzpartner um eine Auswanderung nach Kanada beworben. Ich vermute, dass die Menschen heute viele andere Ängste haben, die sie an den Flüchtlingen festmachen. Von 1970 an hat die untere Mittelschicht stets dazugewonnen. In den letzten fünf Jahren geht es für diese Gruppe nicht mehr bergauf. Aber die fehlende Empathie für Menschen, die noch weniger haben, die wundert mich doch sehr.

Warum fürchten Sie die rechten Parteien so sehr?
Sie nehmen mir Freiheit weg, sie nehmen mir die Vorstellung für Chancengleichheit für alle weg. Und ich mag sie nicht, weil sie alle zum Faschismus tendieren. Ich war immer davon überzeugt, dass das einzige Mittel dagegen Bildung ist. Aber wenn ich mir die Identitären anschaue: Die sind nicht ungebildet. Es sind Studenten. Aber gut, Studenten können auch Trottel sein, aber mehr Bildung kannst den Menschen als Ausgangspunkt ja nicht mehr geben! Bildung nützt auch nicht immer.

Sind die Leute falsch gebildet?
Na ja, wenn 25 Prozent der Zehnjährigen nicht sinnerfassend lesen können, mangelt es wohl am Grundlegenden.

Sollte Bildung nicht Anleitung zum eigenständigen Denken sein?
Natürlich, aber Bildung sollte auch ein Grundstock fürs Leben sein. Man soll wissen, wer Hegel war und was es mit Kants kategorischem Imperativ auf sich hat. Aber vielleicht bin ich antiquiert.

Mit dem weiten Blick zurück auf 80 Jahre: Was raten Sie jungen Menschen?
Was könnte ich Jungen sagen? Vielleicht das: Nix ungschauter glauben, lieber immer bezweifeln, was einem gesagt wird. Und dann natürlich noch meinen Lieblingsspruch, der pickt dort am Küchenkastl: Keiner hat das Recht zu gehorchen.