Herr Rühm, Sie werden vor allem als prominentes Mitglied der Wiener Gruppe vereinnahmt, Ihre auf zehn Bände ausgelegte Werkausgabe zeigt Sie aber eher als Einzelgänger in der genreüberschreitenden Auseinandersetzung mit Literatur, Musik, bildender Kunst.
GERHARD RÜHM: Das war eine organische Entwicklung. Anfang der 50er-Jahre haben sich im Wiener Art Club Künstler, Komponisten, Dichter zur Gruppe formiert, die allesamt experimentell gearbeitet haben. Mit der Zeit haben sich da eben neue Aspekte entwickelt.


Seit 2005 erscheint bei Parthas und Matthes & Seitz Ihr Gesamtwerk. In Graz sprechen Sie heute über den aktuellen Band „Radiophone Poesie“. Was ist das denn?
Ich unterscheide da etwa zwischen auditiver Poesie, die zum Vortrag bestimmt ist. Das mache ich bis heute regelmäßig, etwa Sprechduette gemeinsam mit meiner Frau Monika Lichtenfeld, gestaltet nach rhythmischen Gesichtspunkten und in verschiedenen Lautstärken. Radiophone Poesie dagegen ist mit den technischen Möglichkeiten eines Rundfunkstudios produziert und kann nur auf einem Tonträger gehört werden.


Mit dem klassischen Hörspiel haben diese Werke wenig gemein.
Geräusche nur illustrativ zu verwenden, etwa dass man das Knarren der Tür hört, wenn davon die Rede ist, dass jemand hereinkommt: Solche Verdoppelungen habe ich immer abgelehnt. Alle Schallereignisse sind gleichberechtigt. So habe ich mit dem Leiter der Hörspielabteilung des WDR Klaus Schöning 30 Hörspiele verschiedener Länge gemacht. Auch Kürzeststücke, von denen manche weniger als eine Minute dauern.


Dem Band ist eine CD beigelegt. Hört man die, fällt auf, wie wenig präsent solche experimentelle Hörspielformen aktuell sind.
Leider Gottes ist die Entwicklung eingeschlummert. Das Rundfunkprogramm bietet heute wieder altbackenes Dialog-Hörspiel mit klar verfolgbarer Handlung. Meine Hörspiele haben ja bis auf wenige Ausnahmen keine lineare Handlung, sondern ein Thema, das man umkreisen und aus Einzelteilen zusammensetzen kann.


Sie sind als Musiker ausgebildet, blieb das auch der Ausgangspunkt Ihrer Arbeit fürs Radio?
Musik war ein Ausgangspunkt, aber ich habe, solange ich mich erinnern kann, auch immer begeistert gezeichnet und gedichtet. Im Lauf der Zeit hat sich das zunehmend verschränkt, sodass man nicht genau sagen kann: Ist das noch Musik oder schon Dichtung? Ist es bildende Kunst, wenn man das Material Sprache in Zeichen übersetzt? Grundsätzlich aber geht es mir um eine Ökonomie der Mittel. Aus dem Grund gibt es von mir etwa Meditationsbilder mit nur einem einzigen Wort oder Eintonmusik, die Musik auf den einzelnen Ton reduziert – weil durch die Obertonreihe in einem Ton die ganze Musik mitschwingt, könnte man sagen.


Dieser Purismus entspricht nicht unbedingt dem Zeitgeist.
Dass man nicht mehr Mittel verwenden sollte, als man unbedingt braucht? Was Sprache betrifft, leben wir in einer inflationären Zeit. Diese vielen Romane, die aus dem eigenen Erleben heraus entstehen: Das sehe ich als Fehlentwicklung an. Es kommt auf Extrakte an, nicht auf das Fabulieren. Und auf Innovation. Was man macht, muss in irgendeiner Form Neues bringen. Wir leben aber in einer restaurativen Periode, wo das alles wegschwimmt und das Epigonale vorgezogen wird. In den späten 60ern und 70ern war da mehr möglich.


Vielleicht ist alles experimentelle Potenzial ausgeschöpft?
Es gibt immer revolutionäre Phasen, in denen es vorwärtsgeht, und dann Erschöpfungsperioden, wo das aufgearbeitet wird. Wir erleben das ja auch politisch mit dem Erstarken des Rechtspopulismus. Das ist alles höchst unerfreulich. Haarsträubend, wenn man bedenkt, dass die FPÖ mit einem Volksbegehren gegen ein Rauchverbot vorgeht, das schon in Kraft sein sollte. Das ist ja eine gesundheitsschädliche Partei.


Beunruhigt Sie die restaurative Gegenwart in Kunst und Politik?
Nein, ich bin diesbezüglich nicht pessimistisch. Irgendwann wird dieses Wiederkäuen den Leuten langweilig werden. Der Mensch ist einerseits darauf angelegt zu bewahren, aber es liegt auch in seinem Wesen, dass er immer wieder den Reiz des Neuen erleben muss.