Aufregung an der Croisette: Einen Tag vor Festivaleröffnung wurde am Dienstag der Filmpalast von Cannes evakuiert. Nur ein Probealarm – aber nach den Terroranschlägen in Frankreich und Belgien ist die Nervosität der Sicherheitsleute spürbar.

Peter Simonischek wird trotzdem nach Frankreich reisen: Er spielt die Titelrolle in der Komödie „Toni Erdmann“. Regisseurin Maren Ade („Alle anderen“) konnte damit nach langen acht Jahren als erste deutsche Regisseurin wieder einen Film im Hauptbewerb platzieren – und das als Debütantin neben hochdekorierten Veteranen wie Ken Loach, Pedro Almodóvar, Jim Jarmusch, Xavier Dolan, den Brüdern Dardenne.

Herr Simonischek, laut den Produktionsnotizen wurde „Toni Erdmann“ schon 2014 in Bukarest gedreht. Wissen Sie, warum der Film erst jetzt fertig wurde?
PETER SIMONISCHEK: Maren Ade arbeitet sehr langsam, aber irrsinnig intensiv, mit vielen Einstellungen. Da wird jeder bis an seine Grenzen gefordert, weil sie niemals lockerlässt. Und nach dem Dreh hat sie, weil sie auch darin extrem genau ist, zwei Jahre für die Fertigstellung gebraucht. Mir imponiert diese Kompromisslosigkeit. Aber das war ein Abenteuer. Und ich bin ja eher Zweckpessimist und konnte mir gar nicht vorstellen, wie der Film wird. Jetzt habe ich ihn endlich gesehen, und er ist richtig toll geworden.

Über den Inhalt wurde vorab wenig bekannt.
SIMONISCHEK: Es geht um eine Vater-Tochter-Geschichte zwischen Sandra Hüller und mir. Die beiden hatten in der Vergangenheit ein sehr gutes Verhältnis, basierend auf schrägen Witzen, die wie eine Geheimsprache zwischen den beiden funktioniert haben. Jetzt ist der Vater geschieden und ein bisschen einsam. Also besucht er seine Tochter in Bukarest, wo sie inzwischen als toughe Geschäftsfrau bei einer Consultingfirma Karriere macht. Das provoziert den alten 68er und Birkenstocksandalenträger, und statt nach ein paar Tagen wieder abzufliegen, verkleidet er sich, mischt sich unter die Vorstände seiner Tochter und fährt da eine ganz kühne Rallye. Und sie zieht mit.

Wilde Perücke, ziemlich heftige Zähne: Peter Simonischek als
Wilde Perücke, ziemlich heftige Zähne: Peter Simonischek als "Toni Erdmann" © Komplizen Film/NFP

Klingt nach Komödienstoff.
SIMONISCHEK: Schon. Aber nicht nur. Das ist etwas ganz Eigenständiges. Schon beim Lesen des Drehbuchs ist mir aufgefallen, dass das völlig aus der Reihe tanzt. Ganz anders als die übliche Kost, die man zu lesen kriegt. Und das Skript war dann auch gleich ein Hit in der Branche und wurde im Kollegenkreis ehrfürchtig herumgereicht.

Ades bisherige Spielfilme „Der Wald vor lauter Bäumen“ und „Alle anderen“ drehen sich auch um Liebesdefizite und Isolation. Spielen solche Motive auch in „Toni Erdmann“ eine Rolle?
SIMONISCHEK: Ja, aber nicht so explizit. Dieser Film ist in den gängigen Schemata kaum klassifizierbar. Aber man hätte ihn wohl nicht nach Cannes eingeladen, wenn es Maren Ade da nicht gelungen wäre, etwas völlig Eigenständiges herzustellen, das auf plausible Weise aus der Reihe tanzt.

Sie werden bei der Premiere in Cannes dabei sein?
SIMONISCHEK: Ja, und ich freue mich sehr, dass sich das ausgeht. Ich spiele ja derzeit eine kleine Rolle in den „Sacher“-Filmen von Robert Dornhelm, und am 14. Mai, am Tag der Cannes-Premiere, war ich für einen Drehtag eingeplant. Als ich Dornhelm von Cannes erzählte, sagte er: „Aber da musst du hin!“ Er hat dieses spezielle Set nur einen einzigen Tag lang, aber er sagte: „Wir drehen mit dir an einem anderen Tag mit Greenscreen.“ Das hat mich so gerührt! Denn beim Drehen ist sich üblicherweise jeder selbst der Nächste.

Warum machen Sie überhaupt so wenig Film? Mangelt es an interessanten Angeboten oder an der Lust zu drehen?
SIMONISCHEK: Ach, so wahnsinnig wählerisch war ich gar nie; ich habe 50 Filme gemacht, und nicht immer nur in Hauptrollen. Aber ich spiele eben sehr viel Theater. Und wenn man ganz streng und gnadenlos zurückschaut: Wie viele gute Kinofilme bleiben da übrig? Vielleicht drei, vier.

Gibt es die interessanteren Rollen grundsätzlich am Theater?
SIMONISCHEK: Die Autoren, die sich gehalten haben, sind jedenfalls die, von denen alle anderen abschreiben. Siehe Ibsen, Tschechow, Tennessee Williams. In Drehbuchschulen ist Tschechow bis heute ein Maßstab.

Soll heißen: Ihre Lust, auf der Bühne zu stehen, ist ungebrochen?
SIMONISCHEK: Wir haben ja andere Probleme am Theater. Es gibt die tollen Rollen, aber kaum noch Regisseure, die Lust haben, diese tollen Rollen zu inszenieren. Und die armen Leute, die ins Theater gehen, kriegen oft nicht einmal mehr ansatzweise das Stück zu sehen, wegen dem sie kommen.

Aber sie erleben dafür vielleicht etwas Neues, auf seine Weise Interessantes.
SIMONISCHEK: Man muss vielleicht ein alter Sack sein, um das so kritisch zu sehen. Aber ich denke, man muss nicht unbedingt jedes Stück modernisieren. Ein Klassiker ist deswegen toll, weil er uns auch dann etwas zu sagen hat, wenn man ihn in historischen Kostümen belässt. Die Leute sind ja nicht zu blöd, um die Brücke ins Heute zu schlagen.

Das scheint nicht jeder Regisseur so zu sehen.
SIMONISCHEK: Aber man könnte ja auch die Lust haben, ein Stück von Goethe oder Shakespeare als Gebäude zu begreifen – und dieses Gebäude dann vom Keller bis zum Dach auszuleuchten und zu erforschen. Das ist für mich spannendes Theater. Beim Film ist das anders. Wenn jemand ein autarkes Kunstwerk schafft, finde ich das großartig. Und da muss dann auch kein Dichter im Grab rotieren, der sich anders nicht mehr wehren kann.