Der neue "Jedermann" der Salzburger Festspiele ist nicht mehr neu. Im dritten Jahr der Fassung von Julian Crouch und Brian Mertes ist der üppige Maskenball bereits zum Standard avanciert. Einzig grobes Manko, das bei der Premiere gestern, Sonntag, Abend deutlich wurde: die bunte, musizierende, puppenspielende Prozession passt wunderbar auf den Domplatz - wirkt aber im Festspielhaus fehl am Platz.

Die gewitterlichen Abende der Hitzetage verbannten das Traditionsstück vorsichtshalber ins Ausweichquartier - und genauso fühlte es sich auch an. Was sonst als gemeinsamer Marsch durch die Altstadt beginnt, tänzelt hier eher unbeholfen zwischen den Zuschauerreihen herum, was an Bild- und Wortgewalt mit der monumentalen Domfassade konkurriert, läuft im Innenraum Gefahr, überschminkt und undifferenziert daherzukommen. Hier müsste das Stück mehr von den Charakteren getragen werden - die man unter ihren opulenten Kostümen aber nur schwer erkennen kann.

Gesichtsloser Opportunist

Dabei wäre Cornelius Obonyas Jedermann-Darstellung eigentlich ideal für die feinere Klinge. Das ist kein überzeichneter Charakterkopf, der Brutalität oder Obszönität von der Bühne bellt, sondern ein gesichtsloser, geldiger Opportunist, bei dem die Genusssucht nur eine dünne Schicht über einer tiefen Verlegenheit bildet. Ein wahrer Jedermann, allgegenwärtig und zeitgemäß, nicht nur weil das schulterzuckende Sich-im-Recht-Fühlen gegenüber dem Schuldknecht an den aktuellen Griechenland-Diskurs gemahnt. Aber auch Obonya ist ein wenig zu laut, ein wenig zu gewollt - und vom fehlenden Wiederhall gleichzeitig ausgebremst.

Gegenüber seiner ungestümen Buhlschaft ist dieser Jedermann ohnehin eine nervöse Memme. Brigitte Hobmeier lässt sich von dem Schwung, den ihr der Auftritt mit dem Fahrrad mitgibt, durch ihre gesamte Performance tragen und fegt lachend, Kleid, Haare und Beine schwingend, über die Bühne - ein roter, ruheloser Tupfen in einer ausgeklügelten Farbchoreografie. Mit dem hageren, weißen Tod auf Stöckelschuhen (Peter Lohmeyer), dem dicklichen schwarzroten Teufel (genial eklig: Neuzugang Christoph Franken) und den Vettern, die frisch aus Monty Pythons Werkstatt geschlüpft scheinen (Hannes Flaschberger und Stephan Kreiss), ist die Palette der kunstvollen Schablonen perfekt.

Klirrend goldene Fäkalien

Höhepunkte bilden auch diesmal die Auftritte von Mammon (Jürgen Tarrach mit den klirrend goldenen Fäkalien) und von den Werken (ebenfalls neu dabei: Johanna Bantzer als verdruckstes Mäderl, das zur Spielpuppe geschrumpft ist). Sven Dolinski, heuer erstmals der Gute Gesell, bildet als glattes, beflissenes Bürschchen den passenden Sidekick zu Obonyas Jedermann. Eine zündende gemeinsame Chemie, die Hofmannsthals Verse in echte Gespräche umwandelt, fand aber das gesamte Ensemble nur momentweise.

13 weitere Spieltage stehen in diesem Sommer für den "Jedermann" an, die Premiere war insgesamt die 642. Vorstellung des Stücks bei den Salzburger Festspielen. Das Publikum fühlt sich mit der aktuellen Inszenierung sichtlich wohl, sitzt nicht mehr an den Stuhlkanten, sondern lässt das Spektakel wirken und spendet eifrig Applaus. Teile des Teams - Julian Crouch und Musik-Macher Martin Lowe - treten heuer mit einem neuen Stück, der Brecht-Bearbeitung "Mackie Messer - Eine Salzburger Dreigroschenoper" an und dürfen dank des "Jedermann" auf einen Vertrauensvorschuss bauen. Der Festspielsommer kann also beginnen - und wird dem "Jedermann" hoffentlich rasch seinen Domplatz zurückgeben.
MARIA SCHOLL