Im November 1958 war in Österreich nicht viel los. "Die Chronik Österreichs" vermeldet lediglich ein neues Grundsatzprogramm der ÖVP. Und der Industrielle Stefan Heller starb. Für dessen elfeinhalbjährigen Sohn ist dieser Tod eine Befreiung, sein Einstieg ins Leben. - Jetzt hat er ein Buch darüber geschrieben: "Wie ich lernte, bei mir selbst Kind zu sein."

Leidensgeschichte. Das Buch des nunmehr als André Heller bekannten Autors kreist um diesen zentralen Moment im November 1958, es befasst sich nicht mit der schrecklich grotesken Leidensgeschichte des Kindes davor: wie der Vater den Sechsjährigen in ein katholisches Heim in Montreux steckt.

Hausaltar. Und dann der kleine Hausaltar im Kinderformat, an dem der Volksschüler auf Befehl des Vaters vor erstaunten Gästen "Priester- und Hochamtsversuche" zelebriert. Er soll nämlich Kardinal werden. Aber das alles ist Vorgeschichte und nicht Thema des Buchs.

Verwandlung. Es geht um den November 1958. Der beginnt mit Akten des Widerstands im verhassten katholischen Internat. Einmal wälzt sich der Knabe auf dem Boden und singt: "Großer Gott, wir loben dich". Und zu seinem Erstaunen singt die ganze Klasse mit. So beginnt die Karriere des Entertainers. Dann die Selbstfindung in einer Vision am 9. November: die Erdkruste wird durchsichtig, das "erleuchtete", man könnte auch sagen: hypernervöse, hypersensible und überspannte Kind meint, durch die Erdkruste hindurchzusehen "bis zum Weltkern". "Von da an war ich verwandelt."

Akt der Explosion. Der Knabe beschließt, "endlich ganz die Verantwortung für dieses Kind zu übernehmen, das ich war und das mir anvertraut war." Und das gelingt auch, weil wenige Tage später der Vater stirbt und die Internatszeit damit zu Ende geht. Man denkt bei der Lektüre des Buchs an das "Portrait of the Artist as a Young Man" von James Joyce. Es geht um dieselben Themen, um Schule, Religion, Familie. Und um die verheerende Geschichte des Landes. Was aber bei Joyce als Prozess einer Entwicklung über Jahre geschildert wird, stellt sich bei Heller als Akt der Explosion dar. Was ist wahr, was erfunden? Die Frage mag für den Biografen interessant sein, für den Leser nicht.

"Eine Erzählung". Heller nennt sein Buch "Eine Erzählung" und stellt eingangs fest, hier gehe es um "einige Begebenheiten" aus seiner Kindheit, allerdings habe die Fantasie beim Schreiben "die Oberhand" gehabt. Ein literarischer Text also: witzig, tragisch, skurril, in der Tradition von Schnitzler und Roth. Was daran auffällt, ist die durchgehende Betonung des großbürgerlichen Milieus, in dem das Kind aufwächst. Bei aller seelischen Not: ein Hochprivilegierter, ein "G'stopfter" - auch wenn der Vater das Geld der Familie gerade verjuxt hat.

Aggression. Dieses Milieu wird ihn ein Leben lang prägen, er trägt es vor sich her, und es trägt nicht unwesentlich zu den Aggressionen bei, die André Heller bis heute auslöst. Natürlich, da waren auch seine eigenen Aggressionen, seine wüsten Beschimpfungen - seine Wut hat sich vor allem auf diese Stadt gerichtet, in der er als Kind so zugerichtet worden ist: auf Wien. Aber das ist lange vorbei. Dennoch bleibt die "jesuitische und väterliche Gewalttätigkeit" unvergessen. Auch wenn er am Ende schon wieder eine Vision hat: ein Engel, der ihn lebenslang beschützen will. Und seither fragt sich André Heller, ob er diesen Engel erfunden hat.