Mitten im Auftrittsapplaus eröffnet Georges Prêtre das Neujahrskonzert mit einer schwungvollen Wiedergabe des "Napoleon-Marschs" von Johann Strauß, den zuletzt Willy Boskovsky 1968 auf das Programm gesetzt hatte. Jetzt leitet diese Huldigung an Napoleon III. mit festlicher Eleganz einen französischen Schwerpunkt zu Ehren des Debütanten ein, der mit 83 Jahren erstmals dieses Konzert aller Konzerte dirigiert und dabei auf eine Partitur verzichtet.

Beim "Pariser Walzer" von Johann Strauß Vater, den er fern aller Erdenschwere mit schwebender Leichtigkeit serviert, beim "Versailler Galopp" desselben Komponisten, der freilich sehr wienerisch klingt und keine Anzeichen einer Programmmusik aufweist, und bei der Polka française "Die Pariserin", einer charmanten Liebeserklärung des Walzerkönigs an die Damen der französischen Hauptstadt, kann Prêtre seinen Heimvorteil ausspielen und mit Noblesse auftrumpfen. Beifallsstürme entfacht er aber nur mit der "Orpheus-Quadrille" von Johann Strauß nach Motiven aus Jacques Offenbachs Operette "Orpheus in der Unterwelt", deren Esprit er prägnant zur Geltung bringt und deren berühmten Cancan er zum fulminanten Furioso steigert, in dem die Blechbläser mit ihrer Virtuosität brillieren können.

Eigenwillige Zeitmaße. Prêtre gehört nicht zu den Dirigenten, die sich darauf verlassen, was ihm die Wiener Philharmoniker musikalisch anbieten. Er setzt vielmehr unerwartete, eigenwillige Akzente.

Schon beim zweiten der insgesamt 21 Musikstücke dieser Matinee verblüfft er mit ungewöhnlichen Tempi. In den "Dorfschwalben aus Österreich" nimmt er das erste Walzerthema ganz langsam. Beim nächsten Thema kommt die Musik fast zum Stillstand, gewinnt die Melancholie von Joseph Strauß fast tragische Züge.

Der Effekt macht starke Wirkung. Aber er nützt sich ab, weil ihn Prêtre über Gebühr strapaziert: Auch bei "Freuet Euch des Lebens" von Johann Strauß, den "Hof-Ball-Tänzen" von Joseph Lanner sowie dem "Kaiser-Walzer" und dem "Donau-Walzer" von Johann Strauß agiert er als Erfinder des Zeitlupen-Walzers, der jede Gelegenheit nützt, um die Musik entrückt anzuhalten. Prêtre interpretiert diese Walzer nicht als Tanzmusik, sondern holt sie ganz demonstrativ in den Konzertsaal, formt die "Dorfschwalben aus Österreich" zum kontraststarken Charakterstück.

Dass dies möglich ist, spricht für die symphonische Qualität der Partitur von Joseph Strauß, dass es auch funktioniert, verdankt Prêtre den auch bei diesem extremen Ansatz mit höchster Überzeugungskraft, delikater Klangkultur und grenzenloser Flexibilität musizierenden Wiener Philharmonikern.

Georges Prêtre gehört nicht zur Fraktion der Taktschläger. Vor allem bei den Polkas stopft er den Taktstock meist hinter die Noten des Stimmführers der zweiten Geigen, um die Musik mit beiden Händen zu modellieren. Um die federnde rhythmische Prägnanz des Orchesters muss er dennoch nie fürchten:

Der Galopp "Kleiner Anzeiger" von Joseph Hellmesberger jun. erklingt ebenso mit unwiderstehlicher Rasanz wie die "Tritsch-Tratsch"-Polka von Johann Strauß, die "Libelle" von Joseph Strauß bezaubert mit schwereloser Leichtigkeit und die "Bajadere" von Johann Strauß moussiert zum Abschluss des offiziellen Programms wie Champagner.

Blumen als Souvenir. Danach erscheint Prêtre zur "Sport-Polka" von Joseph Strauß mit einem Fußball, hängen sich die Philharmoniker, in deren Reihen diesmal drei Damen musizieren, im Hinblick auf die Fußball-Europameisterschaft rot-weiß-rote Österreich-Fan-Schals um, zeigen der Dirigent und Konzertmeister Werner Hink einander die gelbe und die rote Karte.

Und ebenso obligat wie der "Donauwalzer" und der "Radetzkymarsch" als weitere Zugaben folgt die Plünderung des Blumenschmucks - da verlässt sogar Erich Hampel, der Vorstandsvorsitzende der Bank Austria-Creditanstalt, den Musikvereinssaal mit einem Arm voller Blumen.