Herr Haneke, eine Maxime Ihres Films lautet: Die Wurzeln des Totalitarismus, des Terrors liegen auch in der Erziehung. Die Handlung spielt vor dem Ersten Weltkrieg in einem kleinen Dorf im protestantischen Deutschland. Kinder wurden damals mit Schlägen bestraft...
MICHAEL HANEKE: Es muss nicht unbedingt die körperliche Züchtigung sein. Aber dass Kinder geschlagen wurden, war damals eben die Norm, war das "richtige Erziehungsmittel". Wenn man aber die Jahre um 1913 beschreibt, kommt man um diese Art der Züchtigung nicht herum.

Aber das waren nicht die einzigen Wurzeln?
HANEKE: Nein. Hoffnungslosigkeit, Unbehagen, gedemütigt werden, keinen Ausweg sehen - all das kann den Weg für den "rettenden Strohhalm" - sprich: Ideologie - bereiten.

Und das ist durchaus aktuell.
HANEKE: Natürlich, aber anders halt. Eine der heutigen Fragen ist zum Beispiel: Wo kommt der Islamismus her? Da finden wir mehrere Begründungen.

Wir erleben gerade den Fall, dass ein deutscher Jüngling seine Heimat aus der Ferne mit islamistischem Terror bedroht?
HANEKE: Ja, aber ich warne vor simplen Begründungen wie: Weil einen seine Mama nicht geliebt hat, ist er zum Mörder geworden, und so. Damit bleibt man zwangsweise an der Oberfläche. Die soziologischen Hintergründe einer Person darzustellen, reicht nicht, da kommt noch eine Menge anderer Dinge hinzu. Das einfache Erklärungsmodell ist nicht unbedingt des Rätsels Lösung.

Stichwort Lösung. Sie zeigen, in atemberaubenden Schwarzweißbildern, Ursachen. Können Sie auch Lösungen anbieten?
HANEKE: Wer sagt, dass er Lösungen hat, ist entweder Lügner oder Politiker. Von der Kunst Lösungen zu verlangen, wäre der falsche Aspekt. Die Politiker müssen halt oft zumindest so tun, als hätten sie Lösungen, denn sie wollen ja wiedergewählt werden. Es liegt in der Natur der Politik, dass sie die Leute täuscht. Oft vielleicht mit bestem Willen.

Wer "Das weiße Band" gesehen hat, verlässt das Kino mit beklemmenden Gefühlen. Liegt Ihnen denn daran?
HANEKE: Ich verunsichere halt ein bissl. Ich hoffe auf eine gewisse Intensität. Das geht einem dann näher als das Übliche. Ein Film soll eine Sprungschanze sein. Springen muss der Zuschauer. Freilich muss die Konstruktion der Schanze stimmen, sonst fällt der Springer vorn runter. Dann wird es kein Flug, sondern ein Absturz. Der Absturz hieße: Langeweile. Die Intensität sollte beim Zuschauer haften bleiben, sodass er sich bemüßigt fühlt, sich nachher Gedanken über das zu machen, was er gesehen hat. Ich versuche mit der Fantasie des Zuschauers zu spielen. Wir kennen das ja auch von guten Theaterregisseuren: Eine knarrende Treppe ist oft spannender, als es geht eine Tür auf und ein Monster kommt herein.

Es könnte sein, dass Sie 2010 den Oscar für den besten fremdsprachigen Film erhalten. Momentan sind Sie für Deutschland nominiert. Was würde Ihnen denn ein Oscar bedeuten?
HANEKE: Natürlich ist die Goldene Palme von Cannes der begehrte Preis für den Film als Kunstform. Für die Publicity ist es der Oscar. Denn den kennt ja jeder Schuster in Hintertupfing. Mit der Palme weiß der vielleicht weniger anzufangen.

Wie groß ist die Chance, dass Sie einmal eine Komödie drehen?
HANEKE: Man soll einen Schuhmacher nicht nach einem Hut fragen. Ich bin ein Schuhmacher und kein Hutmacher. Aber in der Tragödie komische Momente zu finden - damit kann ich etwas anfangen.