Sie beschäftigen sich in Ihrer Kunst seit Jahrzehnten mit der Nazizeit. Die liegt nun über sechzig Jahre zurück. Wie erklären Sie sich deren Zählebigkeit, die Buch- und Kinoerfolge, die politische Brisanz so viele Jahre danach?
JOCHEN GERZ: Das Tausendjährige Reich hat in Wirklichkeit nur kurz gedauert, was die Sache ja noch überraschender macht. Ich glaube, es erklärt sich daraus, dass es nicht von außen kam, nicht etwas Zufälliges war. Es entsprach weitgehend - ich will nicht sagen in allem - der psychischen, der wirtschaftlichen und politischen Erwartung vieler Menschen.

Seit dem Krieg ist viel passiert zur Aufklärung, mit Verspätung auch in Österreich. Heute haben wir einen Nationalratspräsidenten, der den "antifaschistischen Grundkonsens" in Frage stellt und im Amt bleiben kann. Was ist da schief gegangen?
GERZ: Wenn etwas so tiefgreifend der Mehrheit der Menschen entsprochen hat, kann es ja nicht von einem Tag auf den anderen verschwinden. Dass wir mit dem Nationalsozialismus leben, als Erinnerung aber auch als Gefährdung, das ist normal. Wenn man ein solch totalitäres System nicht nur ertragen sondern geschaffen hat, muss man sich zurecht danach fragen, wohin es denn verschwunden ist. Ich glaube einfach, dass Österreich ein Nischendasein führte, auch durch seine Neutralität.

Die hat die Flucht aus der gemeinsamen Geschichte erleichtert?
GERZ: Richtig. Österreich konnte dadurch den "großen Fragen" wie der Schuld, der Verantwortlichkeit aus dem Weg gehen.

Greift die gängige Erinnerungskultur mit KZ-Besuch und Filmvorführungen nicht zu kurz, wenn man tiefe Wurzeln ausreißen will?
GERZ: Ich glaube, dass Veränderung anders stattfindet. Die Schoah hat dazu geführt, dass man die Vergangenheit insgesamt ganz anders begriffen hat als vorher.

Wie?
GERZ: Vorher konnte Vergangenheit heroisiert werden, wenn es gut war. Gut war der Sieg, die Überhöhung der eigenen Taten. Das hat sich durch die Schoah radikal geändert. Wir haben inzwischen eine derartige Bewusstseinskultur entwickelt, dass es fast egal ist, ob Österreich sich ,,persönlich" um diese Themen gekümmert hat oder nicht.

Es wird einfach mitgenommen?
GERZ: Genau richtig. Natürlich gibt es skurrile und exotische Reaktionen, wo man fast denkt, Österreich hat Angst, sein Alleinstellungsmerkmal, seine Renitenz zu verlieren, aber die sind wirklich nicht ganz ernst zu nehmen. Österreich ist in der EU. Damit hat es einen entscheidenden Schritt zu seiner Gegenwartszivilisierung getan. Damit ist viel mehr gesagt als mit den Skurrilitäten die hie und da passieren.