Das Blättern in alten Ullstein Taschenbüchern: "Wo warst du, Adam?", "Und sagte kein einziges Wort", "Haus ohne Hüter", "Das Brot der frühen Jahre". . . Alle erschienen in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts.

Als der Dichter am 16. Juli 1985 starb, erschien der Nachruf in "Le Monde" auf Seite 1. Heinrich Böll war der "geborene Einmischer": als Schriftsteller und als Staatsbürger, als Demonstrant oder als Polemiker auf Rednertribünen und in Zeitungen.

"Wer schreibt, provoziert", postulierte Marcel Reich-Ranicki einmal. Heinrich Böll hat sich diszipliniert an diese These gehalten. Aber wer provoziert, kann auch irren. Ein Irrender war er, als er zum Beispiel im "Spiegel" freies Geleit für die Terroristin Ulrike Meinhof forderte. Er schätzte die Baader-Meinhof-Gruppe völlig falsch ein und wurde deshalb auch von der Bild-Zeitung und anderen Medien als "geistiger Verursacher des Terrors" attackiert.

Geprägt haben ihn die Zwischenkriegszeit und der Krieg. So wurde Böll (Jahrgang 1917) zum literarischen Chronisten der deutschen Nachkriegszeit. 1930 verlor sein Vater, ein Tischler und Holzschnitzer, die Existenzgrundlage samt Haus. Ab 1933 erlebte der Jüngling mit wachsendem Entsetzen den folgenreichen Triumph des Nationalsozialismus und schließlich den Krieg, den er von Anfang an mitmachen musste.

Missverständnisse

Warum wurde dieser Autor, der Instanzen verachtete, selbst zu einer? Weil sich Heinrich Böll von einer zutiefst christlich geprägten Utopie der Menschlichkeit leiten ließ. Der deutsche Schriftsteller Günter de Bruyn schrieb einmal, dass Liebe und Nächstenliebe, die im Werk dieses Autors eine so wichtige Rolle spielen, auch mit Leistungsverweigerung verbunden seien. So wehre sich der Einzelne gegen die Einvernahme durch den Staat und die Konsumgesellschaft: "Sein Selbst, seine Sensibilität zu erhalten, ist dem Liebenden wichtiger als Geld und Erfolg. Er schützt sein Privates. Aber immer bei Böll wird das Private politisch."

Ein Beispiel dafür ist der "Aussteiger" Hans Schnier, Sohn eines Braunkohlenmillionärs, im Roman "Ansichten eines Clowns" (1963). Diese satirische Kritik am Katholizismus der Adenauer-Ära schien manchen zu fromm, wurde von Vertretern des deutschen Verbandskatholizismus aber heftig angegriffen.

Die Kritiker übersahen freilich allzu oft das Motto, das der Autor seinem Roman vorangestellt hatte: "Die werden es sehen, denen von Ihm noch nichts verkündet ward, und die verstehen, die noch nichts vernommen haben." Den Hinweis, dass es sich hier um eine Stelle aus dem Römerbrief des Heiligen Paulus handelte (Kapitel 15, 21), hatte sich Böll erspart.

Heinrich Böll hat das Grauenhafte und Sinnlose des Krieges nachhaltig erlitten. Als er heimkam, lag der Staat in Trümmern: moralisch, wirtschaftlich und politisch. Im Grunde genommen ist das Werk dieses Schriftstellers eine einzige große Klage über das, was er als verunglückten Neubeginn nach dem Krieg empfand. Als man ihn des Pessimismus verdächtigte, wehrte er sich: Nein, das sei Tristesse. Es war eine Trauer über verhinderte Lebensmöglichkeiten.

Der Dichter war zur Erkenntnis gekommen, dass die Chance einer tiefgreifenden geistig-moralischen Erneuerung verpasst worden war. Bei allem Verständnis für die Notwendigkeit eines raschen Aufschwungs erspürte Böll sehr früh Fehlentwicklungen eines Systems, das den organischen Begriff des Wachstums (von Menschen, Tieren oder Pflanzen) auf die Wirtschaft übertrug. Er war überzeugt, dass das "ein Schwindel" sei und zudem "lebensgefährlich". Böll erkannte früh seelische Zersetzungsherde in der Gesellschaft, verursacht durch einen überbordenden Materialismus. Und er wehrte sich gegen einen neuen Totalitarismus, den "Totalitarismus des Sachzwangs".

"Heuchelei"

Dass der in der Wolle eingefärbte Katholik 1976 aus der Kirche austrat, nur aus der "Körperschaft", wie er betonte, hatte "fast nur politische Gründe". Die Verstrickung zwischen CDU-Politik und Kirche im damaligen Deutschland war für ihn unzumutbar.

Böll plädierte schon 1976 für die Freilegung verschütteter geistiger und religiöser Werte: "Auf den Werten, die das Christentum offiziell vertritt. . . haben sich so viel geschichtliche Heuchelei angesammelt, zu viel sehr abstrakte theologische Überlegungen, die mit Religion gar nichts mehr zu tun haben. . . , sodass sie weder den einfachen Menschen noch hochintellektuellen Menschen irgendetwas nützen. Diese hochgebauten theologischen Gebäude, unter denen man dann Gott entdecken muss oder Gott verstecken will."

Beim Wiederlesen wird man an ferne Zeiten erinnert, an eine verschwundene Welt. Aber manches erscheint verblüffend vertraut.

Wenn er zum Beispiel das Ende des "Vorschriftenkatholizismus" ortet, ist Böll ein Hoffender, der feststellt, dass wir mitten in einer ganz anderen, neuen Reformation stehen, die aber keine neue Konfession gebiert: "Vielleicht entdecken die Menschen das Wort wieder" - nämlich den ursprünglichen Sinn des Evangeliums, der in jeder Zeit neu gefunden werden muss.

Anfang der 60er Jahre des vergangenen Jahrhunderts schrieb der Dichter in seinen "Briefen aus dem Rheinland": "Lieber Freund, muss ich Deine Sorge um die CDU auf die Tatsache zurückführen, dass Du immer noch Aktionär bist? Beruhige Dich: ich sehe Zeiten heraufkommen, in denen auch die SPD börsenstärkend wirken wird. Dann kannst Du Dich ohne schlechtes Gewissen mit dem Titel belegen, an dem Dir so viel liegt: ,Linksintellektueller' - und kannst Aktionär sein, ohne Dich als Re-Aktionär zu fühlen."

Prophetisch

Wer denkt da nicht an Schröder, Gusenbauer und Co.? Bölls Zeitkritik, als eine Art literarische Geschichte von unten, ist teilweise prophetisch, wenn man Prophetie im Sinne Reinhold Schneiders als Wissen um die Gegenwart, als ihr tieferes Erkennen, begreift: Heinrich Böll sah damals das, was nicht gesehen wurde, weil es nicht gesehen werden sollte. *Kurt Wimmer war Chefredakteur der Kleinen Zeitung