Da sie, vor dem Hotel stehend, den Reiter nicht von der Seite, sondern von vorne sahen, war er in so weiter Entfernung nicht zu erkennen, aber die fliegende Pferde- und Menschenmähne sagte dennoch, wer da kam: Winnetou! Der Häuptling der Apachen! Als die Banditen seinen Namen hörten, flüchteten sie sofort ins Hotel hinein. Winnetou, der wie im Sturm dahergeflogen kam, erkannte Old Shatterhand, den unüberwindlichen Krieger der Bleichgesichter, von Weitem, richtete sich im Sattel hoch auf, warf den Arm empor und rief seinen Namen. Als er das Gebäude erreichte, gab es einen einzigen Ruck, da stand sein Pferd und er saß drauf, beide wie aus Erz gegossen. "Winnetou, mein Bruder, sei gegrüßt!" - "Scharlih, mein Bruder, gib mir deine Hand!" (Winnetou pflegte den Vornamen "Karl" von Old Shatterhand als "Scharlih" auszusprechen.)

Winnetou bückte sich an der Türschwelle des Hotels, um mit seinem Pferd hereinzukommen, hielt seinen Rappen an, blitzte mit seinen hellen, wunderbaren Augensternen die fünf Personen an und richtete dann die Worte an den Anführer der Banditen. "Uff! Du wagst es, Old Shatterhand, meinen berühmten Bruder, vor dem alle Scharen der roten und weißen Krieger zittern und der lieber alles, was er besitzt, an die Armen verschenkt, einen Nuggets-Dieb zu nennen? Pshaw!" ("Pshaw!" war das verächtlich klinge Wort des Apatschen.) Diese herrliche und edelste aller Rot-Häute befand sich jetzt, hoch zu Pferde, hier im großen Flur des Hotels und aller Augen hingen mit Staunen und Bewunderung, aber auch mit Angst und Schrecken an seinem gebieterischen Angesicht und seiner tadellosen Gestalt, die in vornehmer Haltung halb auf dem Sattel, halb in den mit Klapperschlangenzähnen verzierten Bügeln ruhte.

Mensch, ich reite dich nieder und lass dich unter den Hufen zerstampfen!" rief Winnetou dem Anführer der Banditen zu und flüsterte seinem Rappen das Wort "Tschah" ins Ohr, der den Befehl erkannte, daraufhin sofort hochsprang, langsam und bedrohlich aufs Bleichgesicht zuging. "Zurück, zurück, Mr. Winnetou! Das Pferd schlägt mir ja den Kopf ein!" - Wenn du gestehst, dass du ein Coyote bist, dann verschone ich dich! Bist du einer?" rief Winnetou. - "Ja, doch, ja! Ich bin alles, was Ihr wollt, sogar ein Coyote! Aber lasst mich am Leben." - "Uff!" rief Winnetou und machte dabei eine verächtliche Handbewegung, "zwölf Kugeln sind in meiner Silberbüchse gegen euch fünf Banditen gerichtet und dieses Bleichgesicht, so hat es mir Old Shatterhand erzählt, ist so gnädig, zu versichern, dass mir nichts geschehen soll! Winnetou reitet wann und wohin er will! Jetzt aber bleibt Winnetou hier, denn er hat mit euch zu sprechen. Du hast Winnetou einen Hund genannt! Ihr aber habt fremde Nuggets gestohlen und ihr habt die rechtmäßigen Besitzer des Goldes ermordet! Ihr seid stinkende Coyoten. Für euch sind meine Kugeln nicht, weil ich sie nur für ehrliche Menschen habe. Euch reite ich mit den Hufen meines Rosses in die Erde! Ich habe gesprochen, howgh!" Ein heiteres, gleichzeitig ironisches Lächeln ging nun schnell wie ein Blitz über sein Gesicht, um sich dann in den Ausdruck drohenden Zornes zu verwandeln: "Mein Bruder Scharlih mache es kurz mit ihm!"

Winnetou trug einen Jagdanzug aus Elchleder mit roten Lederfransen, an den Füßen leichte, braune Mokassins, die mit Stachelschweinborsten und kunstvoll zugeschliffenen Nuggets geschmückt waren. Um seinen Hals trug der Häuptling der Mescalero-Apatschen, der auch der oberste Kriegshäuptling aller Apatschenstämme ist, eine von Künstlerhand geschnitzte Friedenspfeife, einen Medizinbeutel mit den Knochenstückchen seines Vaters Intschu-tschuna und mit den Knochenstücken seiner geliebten Schwester Nscho-tschi, die hinterhältigen Banditen zum Opfer fielen. Ebenfalls um seinen Hals trug er eine Kette aus den Krallen der Grizzlybären, die er in Lebensgefahr selber erlegt hatte. Sein dichtes, bläulich schwarzes Haar war auf dem Kopf zu einem hohen helmartigen Schopf zusammengebunden und fiel, wenn er stolz im Sattel saß, wie eine Mähne oder ein dichter Schleier fast bis auf den Rücken seines Pferdes herab. Auf seinem Rücken hing ein doppelläufiges, an den Holzteilen mit silbernen Nägeln beschlagenes Gewehr, die im ganzen Westen berühmte "Silberbüchse", deren Kugeln nie ihr Ziel verfehlten.

Kaum merklich standen die Backenknochen von Winnetous schönem, männlichen, man möchte sagen "römischen" Gesicht hervor, denn die Farbe seiner Haut war ein mattes Hellbraun, das mit einem leisen Bronzehauch überzogen war. Deutlich konnte man den sanften, liebreichen, milden und doch energischen Schwung seiner Lippen sehen, die, wenn er sprach, zu süßesten Schmeicheltönen, aber auch zu furchterweckenden Donnerlauten mit tief einschneidender Ironie fähig waren. Im Zorn hatte seine Stimme die Kraft eines Hammers, der Eisen zerschlägt und die Schärfe einer alles zersetzenden Säure. Das allerschönste an Winnetou aber waren seine dunkeln, samtartigen Augen, in denen eine ganze Welt der Liebe, der Güte, der Dankbarkeit, des Mitleidens, der Besorgnis, aber auch der tiefsten Verachtung liegen konnte. Wenn Winnetou zornig war, loderten Flammen aus seinen Augen, mit denen er vernichtende Blitze schleudern konnte.

Wenn Winnetou von Gott sprach, von seinem großen, guten Manitou, waren seine Augen fromme Madonnenaugen. Wenn er zu jemanden freundlich sprach, waren es liebevolle Frauenaugen. Aber wenn er zürnte, waren es drohende und Angst machende Odins-Augen. Oft sagte der Häuptling der Mescalero-Indianer: "Was man für unglückliche Menschen tue, das tue man für den großen, guten Manitou!" Old Shatterhand ritt mit dem edelsten der Indianer vom Rio Pecos aus durch Texas, durch das Indianer-Territorium, zum Missouri, von wo aus Winnetou alleine in die Berge ging, um Nuggets zu holen. Old Shatterhand wusste, dass Winnetou auf seinen vielen Wanderungen vom einen Indianer-Stamme zum anderen Stellen entdeckt hatte, wo Gold und Silber zu finden waren. Manchmal verbrachte er Wochen und Tage damit, diese Orte unzugänglich zu machen. Diese Goldquellen suchte er auf, wenn er Geld brauchte, wenn er zu einem Fort oder zu einer Niederlassung reiten musste, um Munition zu kaufen. Im Wilden Westen brauchte er das Gold nicht, er ernährte sich von den Früchten des Waldes und schoss sich unterwegs das Fleisch. "Itseh, aki kolet - Fleisch, zwei Elks!" rief Winnetou, wenn man überrascht aus seiner Silberbüchse zwei Schüsse hörte, aber eigentlich einen Angriff von gegnerischer Seite erwartet hatte. Zu einer armen Familie, die er mit Gold beglückte, sagte er einmal in Anwesenheit von Old Shatterhand: "Kann man das Leben eines Menschen mit Geld bezahlen? Ich bin Winnetou, der Häuptling der Apachen, und dieser Gentleman ist Old Shatterhand, mein Freund. Er könnte Millionen besitzen, wenn er sie von mir annehmen würde, er mag sie aber nicht!"

Als dann wieder einmal der Heilige Abend kam und die Bleichgesichter Weihnachtslieder sagen: "Ich verkünde große Freude, / Die Euch widerfahren ist, / Denn geboren wurde heute / Euer Heiland Jesus Christ!" beschloss man in der Prärie, das Weihnachtsfest nach deutscher Weise durch einen brennenden Lichterbaum zu begehen, Kerzen aus Elchtalg wurden in die Dillen der Leuchter gesteckt und angezündet. Rings um den leuchtenden, nach frisch gehackter Tanne und nach Tiertalg riechenden Christbaum saßen die Weißen, in einem weiteren Kreis lagerten die Schoschonen und schauten ebenfalls neugierig auf den Christbaum. Winnetou holte Nuggets in der Größe eines Taubeneies aus einem Jutesack und legte sie unter den Weihnachtsbaum. Auch die Schoschonen knieten nieder und falteten ihre Hände, als die Bleichgesichter weiter sangen: "Jubelnd tönt es durch die Sphären, / Sonnen künden's jedem Stern; / Weihrauch duftet auf Altären, / Beter knieen nah und fern." Nach der Bescherung und nachdem die Bleichgesichter und die Rothäute das getrocknete Fleisch zweier Elche verzehrt hatten, zogen sich Old Shatterhand und Winnetou in ihre Lager zurück. "Gute Nacht, Winnetou!" sagte Old Shatterhand. "Gute Nacht, Scharlih!" antwortete der Häuptling der Apachen, "mein Bruder wacht zuerst, weil er mit seinen Gedanken sprechen muss."