Ja darf er denn das?! Da tritt Martin Kuej, bekannter Textchirurg und beraunter Bühnenberserker, als neuer Intendant des Bayerischen Staatsschauspiels an, trennt sich von drei Vierteln des bestehenden Schauspielpersonals, räumt alles Repertoire seines Vorgängers Dieter Dorn aus dem Spielplan. Und dann eröffnet er mit einer nahezu konventionellen aber überaus präzisen Inszenierung von Arthur Schnitzlers Seelenschau "Das weite Land".

Zumindest laut Nachtkritik der "Süddeutschen" darf Kuej das nicht: "Weites Ödland" titelte man dort. So kann es einem gehen, wenn man Vorurteile und Erwartungshaltung gleichermaßen enttäuscht.

Schlachtenbummler

Tout München, aber auch die so genannte deutsche Großkritik fand sich am Donnerstag im Residenztheater ein, zeitweilig stand der Hausherr an der Pforte und begrüßte per Handschlag oder Umarmung. Dass Martin Kuej auch in München das Interesse Österreichs erregt, wurde aus dem Defilee deutlich. Bühnenkollegen wie Andrea Breth, Nicholas Ofczarek, Sunnyi Melles, Annemarie Schullin, die Theater-Direktoren Matthias Hartmann und Roland Geyer waren angereist. Ebenso Verehrer seiner Kunst wie der Grazer Literaturhauschef Gerhard Melzer, Salzburg-Präsidentin Helga Rabl-Stadler, Galerist Thaddäus Ropac, Filmproduzent Dieter Pochlatko und andere. Schlachtenbummler des Theaters, wie man sie in dieser Anzahl selten erlebt.

Der Abend beginnt mit Korsakows Begräbnis, von Bühnenbildner Martin Zehetgruber hinter eine Regenwand gestellt. Eine Fleißaufgabe, die Schnitzler so nicht vorsah. Doch was wie eine Erweiterung des Stückes aussieht, ist keine. Kuejs Version wird eine gute Stunde weniger benötigen als jene von Alvis Hermanis am Burgtheater, knapp 180 Minuten mit Pause. Und er hat den vom Autor ermöglichten Personenstand von 30 Figuren auf zwölf reduziert. Was dem Stück extrem gut tut.

Unvereinbarkeit

Vor ziemlich genau hundert Jahren, am 14. Oktober 1911 wurde "Das weite Land" an neun Bühnen, darunter auch Wien und München, uraufgeführt. Was zum einen Arthur Schnitzlers damaligen Stellenwert als Dramatiker illustriert. Zum anderen hat die Zeit nicht an ihm genagt: Die sarkastische Geschichte über die Unvereinbarkeit von Mann und Frau, der Kampf um die verweichende Jugend, das bevorstehende unbekannte Neue, das alles gilt immer noch. Eine so klare, von allen Freundlichkeiten entfettete Inszenierung wie diese von Martin Kuej macht das noch deutlicher.

Held des Abends ist Tobias Moretti. Sein Hofreiter unterscheidet sich von fast allen, die man bisher in dieser Rolle gesehen hat. Zumeist ragen diese Figuren aus der Vergangenheit in die brüchige Gegenwart, Moretti indes verweist in die Zukunft. Seine auch körpersprachlich exzellente Darstellung nimmt den modernen High-Speed-Manager des Kapitals vorweg. Er ist nicht mehr jung, aber er hat noch viel vor. Juliane Köhler ist eine wütende Genia, von Beginn an eingefroren, ein brennender Eiszapfen, der nie schmilzt. Britta Hammelstein gibt die Erna, wie man sie zu kennen glaubt: Ein kindliches Wesen mit Vamptalent. Markus Hering spielt den Doktor Mauer solide vom Blatt. Den Rest der Truppe, selbst Eva Mattes, lässt Kuej eher beiläufig agieren, worin der einzige Schwachpunkt dieses Abends liegt.

Noch vor der veröffentlichten Kritik urteilte das Münchner Publikum: Mit lange anhaltendem, teils frenetischem Applaus für das Ensemble und den Regisseur und neuen Hausherrn.